Warum Israel Opfer bringen muss
Eine Reise nach Gaza hat den Liberaldemokraten Lord Phillips of Sudbury
davon überzeugt, dass Sharons Politik destruktiv ist.
Andrew Phillips
Sonntag, den 22. Mai 2005
The Observer
Die Realität von
Gaza, der Westbank und Ostjerusalems war weit schlimmer als ich erwartet
hatte, und dabei waren diese Erwartungen schlimm genug gewesen. Die
Mauern aus Demütigung, Hass und Unfreiheit sind allgegenwärtig sowie
Gott sei Dank auch das Ehrgefühl, der Überlebenswille und die
Begabungen.
Als jemand, der im
Schatten des Holocaust groß geworden ist und 1973 als Freiwilliger für
Israel gekämpft hat, wollte ich es nun mit eigenen Augen sehen, hatte
ich doch im Voraus Tony Blairs Ansicht geteilt, dass der
israelisch-palästinensische Konflikt nicht nur die regionale sondern
auch die gesamte globale Politik infiziert.
Ich bin nun mit
meinen beiden Begleitern zurückgekehrt und glaube, dass Israel zurzeit
im Namen der Sicherheit seine Sicherheit zerstört. Indem es seine
Eiserne-Hand-Methode anwendet, die teilweise aus einem „Niemals-wieder“-Versprechen
geboren wurde, ist Israel dazu fähig, die Tragödie in eine Katastrophe
zu verwandeln. Dies könnte dann die formelle Anerkennung des Rechtes
Israels auf eine gesicherte Existenz durch seine arabischen Nachbarn
rückgängig machen und würde sicherlich den vor kurzem verabredeten
Waffenstillstand zwischen Ariel Sharon und dem neuen Führer der
Palästinensischen Autonomiebehörde, Abu Mazen, aufheben.
Im Grunde genommen
ist es ganz klar: Die Initiative, einem Desaster vorzubeugen, liegt
hauptsächlich bei Israel, das die überwältigende Macht und Kontrolle
hat. Der Rückzug aus Gaza – innerhalb Israels höchst umstritten – muss
ein erster und nicht (wie die meisten Palästinenser vermuten) der letzte
Schritt zum Frieden sein. Dieser Rückzug (8.000 Siedler) ist weit
unbedeutender für den Frieden als die fortwährende hastige Ausdehnung
der Siedlungen und Außenposten in der Westbank (mehr als 200.000
Siedler). Die 113 km lange Mauer, die Ostjerusalem unwiderruflich von
der Westbank trennt, und die anderen gigantischen Grenzmauern müssen
letztendlich genau so sinnlos wie alle Mauern der gesamten
Geschichtsschreibung von Jericho bis nach Berlin sein. Die
Strangulierung der Bewegungsmöglichkeit der Menschen und Güter sowohl
innerhalb als auch von und zu den besetzten Gebieten ist einerseits
erniedrigend und mit Bestimmtheit Hass induzierend, andererseits auch
ökonomisch verheerend.
Grob gerechnet
haben 60 % der Palästinenser einen Hochschulabschluss, dennoch ist
derselbe Prozentsatz ohne Beschäftigung. Die Hauptursachen liegen in
den eingeschränkten Bewegungsmöglichkeiten aufgrund von Absperrungen
(der Weltbankbericht machte dieses Jahr mehr als 700 davon in der
Westbank aus), welche die Kosten um 1.000 % hochtreiben, die Ausfuhr der
Blumen und Früchte dezimieren und jegliche Geschäftstätigkeit zum
Erliegen bringen. Gerade die Israelis verstehen etwas von
wirtschaftlicher Entwicklung, und dass Investitionen in Palästina davon
abhängig sind, ob solche Absperrungen aufgehoben werden … sei es mittels
Grenzen, die durch die UN oder neutrale Beobachter überwacht werden. Nur
dann kann sich der abstürzende palästinensische Lebensstandard (kaum
ein Zehntel des israelischen Standards!) drehen und die stille,
resignierte Auswanderung unterbunden werden. Palästinenser vermuten,
dass letztere Israels heimlicher Nebenschauplatz sei.
Einige israelische
Gruppen hegen den Anspruch auf ganz Palästina als ihr von Gott gegebenes
Recht. Hamas hat den gleichen Anspruch gegenüber Israel, obwohl sie sich
im Vorfeld der Juliwahlen im Ungewissen darüber ist. Es ist völlig
verständlich, dass sogar gemäßigte Israelis und deren Unterstützer rund
um den Globus geneigt sind, im Angesicht dieser Bedrohung etwas
großzügiger in ihrer Beurteilung zu sein. Aber wenn dies dazu führt,
Menschenrechtsverletzungen und schleichende Besiedlung zu
rechtfertigen, dann wäre es ein tödlicher Fehler.
Sehr beunruhigend
ist vielfach der gnadenlose Anstieg der Außenposten – der aufkeimenden
Siedlungen – in der Westbank, die das Applied Research Institute in
Jerusalem aufgrund von Satellitenaufnahmen ausfindig gemacht hat, sowie
die nicht öffentlichen Schnellstraßen zwischen vielen von ihnen und die
großen Gebiete palästinensischen Landes, welche durch die Grenzmauern
abgetrennt sind. Dies alles verstößt gegen Vereinbarungen oder
internationales Recht, indem – wie die Israelis es gerne ausdrücken –
„Tatsachen geschaffen werden“. Damit scheinen sie zunehmend die Chancen
für eine angemessene Besiedlung (das wäre das Einzige, was funktionieren
könnte) außen vor zu lassen.
Obwohl der
Vergleich hinkt – in Nordirland war nur deshalb ein Wandel möglich, weil
die zugrunde liegenden Ursachen der katholischen Benachteiligung
angesprochen wurden. Israels langfristige Sicherheit muss auch davon
abhängen, den Kampf um die Herzen und das Denken der Palästinenser zu
gewinnen, ansonsten kann der Fanatismus nicht entschärft werden. Dazu
gehört es, die fast nicht mehr stattfindenden, normalen Kontakte
zwischen Israelis und Palästinensern wieder zuzulassen.
Ein anschauliches
Bild der realen Verhältnisse ergab sich bei meinem Besuch der UN-Schule
im Rafah-Flüchtlingslager (man stellt bald fest, dass die besetzten
Gebiete ohne massive UN-Hilfe zusammenbrechen würden). Eine Klasse von
fünfzig 13- bis 14Jährigen, die mich mit strahlenden Augen ansahen,
wehrten sich zusehends, als ich erklärte, dass erneute
Selbstmordattentate und palästinensische Unabhängigkeit miteinander
unvereinbar seien. „Wie sollen wir uns denn verteidigen?“ platzte ein
Mädchen unter Tränen heraus, dessen Vater, wie mir erzählt wurde, von
den Israelis umgebracht worden war. Einem weiteren Kind war der Bruder,
einem anderen der Vater getötet worden. Dreizehn von ihnen hatte man
ihre Häuser zerstört. Viele Familien waren bereits in ihrer dritten
„Wohnung“, seit sie 1947/48 gewaltsam vertrieben worden waren. Dennoch –
trotz dieser traurigen Beweise leidenschaftlichen Widerstandes
kristallisierte sich bei meiner Reise das Bild eines Volkes heraus, das
Sehnsucht nach einem beidseitigen Friedensschluss hat. Es wäre
illusionär, anzunehmen, dass der Weg dorthin nicht mit Gefahren und
Rückschlägen gepflastert sei. Ein weiterer Trugschluss wäre jedoch, dass
militärische Macht und Mauern die Selbstmordanschläge und Schlimmeres
auf Dauer beenden könnten.
Während meiner
Anwesenheit kündigte Israel die Verschiebung des Gazarückzuges um drei
Monate an. Es weigerte sich ebenfalls, über Dinge wie insbesondere die
Grenzkontrollen und das Siedlungseigentum zu verhandeln. So etwas
schürt einfach den Zynismus.
Bisher haben
endlose Jahre der Mühsal und des Aufruhrs die Palästinenser vor die
Tatsache gestellt, dass ihnen im Jahr 2005 noch etwa ein Fünftel des
Landes, das man ihnen durch die UN gelassen hatte, als Israel 1948
gegründet wurde, gehört, und sogar diese Fläche ist unbrauchbar
zerstückelt und eingeschlossen.
Sicherlich werden
auf beiden Seiten Fehler gemacht. Aber ich kehrte zurück mit der
Überzeugung, dass Amerika, falls es wirklich an Israels dauerhaftes Wohl
dächte, nun eine kompromisslose Zuneigung zeigen müsse. Die furchtsame,
außergewöhnliche Demokratie Israels – immer noch gefangen im langen
Schatten ihrer vorgeburtlichen Traumata – braucht eine freundschaftliche
Auseinandersetzung, bevor sie in Feindseligkeit untertaucht.
Zumindest muss die
Roadmap energisch vorangetrieben werden. Viel Zeit bleibt nicht mehr.
Anmerkung: Andrew Phillips ist
Lord Phillips of Sudbury
22.05.2005, Übers. v. Gabriele Al
Dahouk
|