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Die Tränen Gazas
sollten unsere Tränen sein
Chris Hedges
9.8. 2010
Chris Hedges machte diese Bemerkungen
Donnerstagabend als Fundraiser, um Spenden für ein US-Boot zu sammeln,
das die Blockade von Gaza brechen soll.
Als ich in Jerusalem lebte, hatte ich eine
Freundin, die sich mir anvertraute: als College-Studentin in den USA
besuchte sie solche Veranstaltungen wie diese hier und schrieb Berichte
und übermittelte sie gegen Bezahlung der Israelischen Botschaft. Es
wäre naiv zu denken, dass diese Praxis aufgehört hat. Deshalb möchte ich
mich heute Abend zunächst an die Person oder die Personen wenden, die
hierher gekommen sind, um der israelischen Regierung zu berichten.
Ich möchte sie daran erinnern, dass sie es
sind, die sich in Dunkel hüllen. Wir stehen im Licht.
Sie sind es, die täuschen. Wir sprechen
unser Mitleid offen aus und fordern Gerechtigkeit für jene, die in Gaza
leiden. Wir haben keine Angst, unsere Namen zu nennen; wir haben keine
Angst, zu unsern Überzeugungen zu stehen. Und wir wissen etwas, vor dem
ihr vielleicht Angst habt. Wie Martin Luther King sagte: der Bogen des
moralischen Universums ist lang, er beugt sich aber vor der
Gerechtigkeit, und dieser Bogen kommt mit gerechtem Zorn und donnert
auf die israelische Regierung herab.
Ihr mögt die Bulldozer, Flugzeuge und
Hubschrauber haben, die Häuser in Schutt verwandeln, ihr mögt Kommandos
haben, die mit Seilen aufs Deck von Schiffen herab kommen und
unbewaffnete Zivilisten auf hoher See und im Gazastreifen töten; ihr
mögt die große Macht des Staates hinter euch haben. Wir haben nur unsere
Herzen und Hände und unsere Stimmen. Aber nehmt es zur Kenntnis,
beachtet es wohl: Ihr seid es, die ihr vor uns Angst habt. Wir fürchten
uns nicht vor euch. Wir arbeiten und beten weiter, wir protestieren und
denunzieren, wir werden weiter gegen eure Flotte und Armee vorstoßen mit
nichts anderem als unsern Körpern, bis wir beweisen, dass die Kraft der
Moral und Gerechtigkeit größer ist als Hass und Gewalt. Und dann, wenn
in Gaza Freiheit herrscht – werden wir euch vergeben. Wir werden euch
bitten, mit uns das Brot zu brechen. Wir werden eure Kinder segnen,
selbst wenn ihr es nicht fertig bringt, die Kinder jener zu segnen, die
ihr besetzt haltet. Und vielleicht ist es dieses Vergeben, vielleicht
ist es diese größte, unüberwindliche Macht der Liebe, die euch am
meisten beunruhigt.
Und deshalb lasst mich heute Abend, einem
Abend, an dem einige versuchen, die Dinge mit Namen zu nennen und andere
ihren Namen zu verbergen versuchen, lasst mich einiges beim Namen,
beim richtigen Namen nennen. Gehen wir durch die Redensarten, die
Euphemismen, die wir anwenden, um menschliches Leiden und
Kriegsverbrechen zu maskieren. „Closure“ (Absperrung) bedeutet: schwer
bewaffnete Soldaten umgeben palästinensische Ghettos und verweigern den
Eingeschlossenen Nahrung oder Grundbedürfnisse – einschließlich
Spielzeug, Rasierklingen, Schokolade, Fischernetze und Musikinstrumente
- und führen eine brutale Politik kollektiver Bestrafung durch, die nach
dem Völkerrecht ein Verbrechen ist. „Umstrittenes Land“ bedeutet: von
Palästinensern gestohlenes Land. „Clashes“ (Zusammenstöße) bedeutet
fast immer das Töten und Verletzen von unbewaffneten Palästinensern,
einschließlich Kindern. „Jüdische Nachbarschaft in der Westbank“
bedeutet festungsartige Siedlungen, die als Militärstützpunkte bei der
ethnischen Säuberung der Palästinenser dienen. „Gezieltes Töten“
bedeutet außergerichtliche Todesstrafe. „Luftschläge auf militante
Bomben bauende Posten“ bedeutet: das Abwerfen riesiger Splitterbomben
aus Kampfflugzeugen auf dicht bewohnte Stadtteile, die immer eine Menge
Tote und Verletzte zurück lassen. (dies war ihr einziger Kontakt mit
einer Bombe, die - in den USA fabriziert - der israelischen Luftwaffe
als Teil ihrer Komplizenschaft mit der Besatzung gegeben wurde.). „Der
Friedensprozess“ bedeutet die zynische Einbahnstraße, um das
palästinensische Volk zu zerstören.
Dies sind nur einige Wörter und Namen. Es
gibt noch andere.
Dr. Izzedin Abueleish erlebte, wie am
Nachmittag des 16. Januar 2009 ein paar israelische Panzergrananten
durch das Schlafzimmer seiner Gaza-Wohnung krachten und drei seiner
Töchter töteten – Bessan, Mayar und Aya mit einer Nichte Noor.
„Ich habe ein Recht, zornig zu sein,“ sagt
Abueleish. „Aber ich frage mich, ob das der richtige Weg ist? Viele
Leute erwarten von mir, dass ich hasse. Meine Antwort ist: ich soll
nicht hassen.“ „Wen soll ich denn hassen?“ fragt der 55jährige
Gynäkologe, der in einem palästinensischen Flüchtlingslager in Armut
aufgewachsen ist. „Meine israelischen Freunde? Meine israelischen
Kollegen? Die israelischen Babys, denen ich bei der Geburt geholfen
habe?“
Der palästinensische Dichter Taha Muhammad
Ali beschrieb dies in seinem Prose poem „Rache“:
Zuweilen … wünsche ich mir/ ich könnte in
einem Duell den Mann treffen/, der meinen Vater tötete/ und mein Haus
zerstörte/und mich in ein schmales Land vertrieb../
Und wenn er mich tötete/ hätte ich endlich
Ruhe/ und wenn ich bereit wäre - / würde ich mich rächen.
Aber wenn herauskäme/ sobald mein Rivale
erscheint,/ dass er eine Mutter hat,/ die auf ihn wartet/ oder einen
Vater, der seine Rechte auf sein Herz legt, wenn sein Sohn spät nach
Hause kommt/ und wenn es nur eine Viertelstunde ist … ich würde ihn
nicht töten/ selbst wenn ich könnte.
Ich würde ihn auch nicht morden/ wenn klar
würde, dass er einen Bruder oder Schwestern hat, die ihn liebten/ und
sich danach sehnten, ihn zu sehen/ oder wenn er eine Frau hätte/ die ihn
empfangen möchte/ oder Kinder/ die seine Abwesenheit nicht ertragen/
und die von seinen Geschenken freudig erregt wären./ Oder wenn er
Freunde oder Kameraden hätte, oder Nachbarn oder Verbündete / aus dem
Gefängnis / oder dem Krankenhauszimmer/ oder Klassenkameraden aus seiner
Schulzeit …/ die nach ihm fragen und ihn grüßen.
Doch wenn herauskäme/ dass er alleine ist/
wie ein abgeschnittener Ast vom Baum/ ohne Vater und Mutter/ weder
Bruder noch Schwester hat/ keine Frau und kein Kind/ keine Nachbarn und
Freunde/ Kollegen und Kameraden/ dann will ich zum Schmerz seiner
Einsamkeit/ nicht noch den Schmerz des Sterbens hinzufügen./
stattdessen wär ich zufrieden/ ihn zu ignorieren/ wenn ich auf der
Straße/ an ihm vorbeiginge/ ihn nicht zu beachten/ das wäre dann meine
Art der Rache.
Und wenn diese Worte bedeuten würden, ein
Muslim zu sein – und ich glaube es – dann nennt mich ein Muslim, ein
Nachfolger des Propheten – Friede sei mit ihm.
Das Boot nach Gaza wird den Namen „Kühnheit
der Hoffnung“ haben. Es sind keine Worte von Barack Obama. Es sind die
Worte meines Freundes Pastor Jeremiah Wright. Es sind geborgte Worte.
Und Jerry Wright hat keine Angst, die Wahrheit zu sagen; er hat keine
Angst uns zu sagen, dass wir aufhören sollen, Gott mit Amerika zu
verwirren. „Wir bombardierten Hiroshima, wir bombardierten Nagasaki, und
wir vernichteten weit mehr als die Tausenden, die in New York und im
Pentagon umkamen, und wir haben nicht einmal mit der Wimper gezuckt,“
sagte P. Wright. „ Wir haben Staatsterror gegen die Palästinenser und
gegen Schwarz-Südafrika unterstützt, und jetzt sind wir empört, weil
die Scheiße, die wir jenseits des Meeres machten, nun in unsere
Hinterhöfe zurückkommt . …
Oder die Worte von Edward Said:
Meiner Ansicht nach ist nichts
verwerflicher als jene Denkgewohnheiten des Intellektuellen, die
Vermeidung verursachen, dieses typische Sich-Abwenden von einer
schwierigen und prinzipientreuen Position, von der man weiß, dass sie
richtig ist, die man aber nicht einnimmt. Man möchte nicht zu
politisch erscheinen, man fürchtet zu kontrovers zu sein; man möchte den
Ruf haben, ausbalanciert , objektiv und moderat zu sein; man hofft, um
Rat gefragt zu werden, im Vorstand eines Prestige-Komitees zu sein und
so innerhalb des verantwortlichen Mainstream; eines Tages hofft man,
einen Ehrengrad zu bekommen, einen grossen Preis, vielleicht sogar einen
Botschafterposten.
Für einen Intellektuellen sind diese
Denkgewohnheiten außerordentlich korrumpierend. Wenn irgendetwas
neutralisieren und schließlich ein leidenschaftliches, intellektuelles
Leben töten kann, dann ist es die Verinnerlichung solcher Gewohnheiten.
Persönlich bin ich ihnen bei einem der schwierigsten zeitgenössischen
Probleme begegnet, Palästina, wo die Angst, über die größten
Ungerechtigkeiten der modernsten Geschichte zu reden, einen lähmt, und
viele mit Scheuklappen und einem Maulkorb herumlaufen, obwohl sie die
Wahrheit wissen und ihr dienen könnten. Denn trotz der Beschimpfung und
Diffamierung, die jeder Unterstützer der palästinensischen Rechte und
Selbstbestimmung erhält -- die Wahrheit verdient ausgesprochen und von
einem unerschrockenen und leidenschaftlichen Intellektuellen dargestellt
zu werden.
Und noch einige letzte Worte von Rachel
Corrie an ihre Eltern ( aus dem Gazastreifen in die USA):
Ich bin Zeuge dieses schrecklichen,
heimtückischen Genozids und ich habe wirklich Angst und hinterfrage
meinen tiefen Glauben an die Güte der menschlichen Natur. Dies hier
muss angehalten werden. Ich denke, es ist eine gute Idee für alle von
uns, alles fallen zu lassen und unser Leben der Veränderung hier zu
widmen. Ich denke nicht, dass dies eine extreme Sache ist. Ich will,
dass dies hier aufhört. Unglauben und Schrecken empfinde ich und
Enttäuschung. Ich bin enttäuscht, dass dies die Grundlage der Realität
unserer Welt ist und dass wir tatsächlich daran teilnehmen. Das ist
überhaupt nicht das, weshalb ich in diese Welt kam. ..Das ist überhaupt
nicht die Welt, in die die Menschen hier in die Welt kommen wollten…..
Draußen hört man gerade irgendwo in der Ferne größere Explosionen …wenn
ich( eines Tages) von Palästina zurückkommen werde, werde ich
wahrscheinlich Alpträume haben und mich ständig schuldig fühlen, dass
ich nicht dort bin … Hierher zu kommen, ist eines der besseren Dinge,
die ich je getan habe. Wenn ich jetzt verrückt klinge, oder wenn das
israelische Militär mit ihrer rassistischen Tendenz brechen würde, Weiße
nicht zu verletzen, liegt der Grund allein in der Tatsache, dass ich
mich mitten in einem Genozid befinde, den ich indirekt mit unterstütze
und für den meine Regierung weitgehend verantwortlich ist.
Und wenn dies das ist, was es heißt, ein
Christ zu sein, dann heißt das, mit den Stimmen von Jeremiah Wright,
Edward Said oder Rachel Corrie zu sprechen, sich erinnern und auf sich
den Schmerz und die Ungerechtigkeit der anderen auf sich zu nehmen. Dann
nenne mich einen Christen, einen Jünger Jesu Christi.
Und was die lange Reihe jüdischer Propheten
betrifft, wie Jeremia, Jesaja und Amos bis Hannah Arendt, die die Welt,
als der Staat Israel gegründet wurde, daran erinnerte, dass die
Ungerechtigkeit, die den Juden zuteil wurde, nicht durch Ungerechtigkeit
gegenüber den Palästinensern wieder gut gemacht werden kann, na, und
unsere eigenen Propheten, Noam Chomsky oder Norman Finkelstein,
-Ausgestoßene wie alle Propheten - na, und Uri Avnery oder der
israelische Dichter Aharon Shabtei, der in seinem Gedicht „Rypin“ , die
polnische Stadt, aus der sein Vater während des Holocaust floh,
folgendes schreibt:
Diese Kreaturen in Helmen und Khakis/ sind
keine Juden/ so sag ich zu mir selbst/ im wahrsten Sinn des Wortes/ Ein
Jude behängt sich nicht mit Waffen/ als wäre es Schmuck./
Er glaubt nicht an ein Gewehr/ das auf ein
Ziel gerichtet ist/ sondern an den Daumen des Kindes, auf das geschossen
wurde/ in dem Haus, durch das er kam und geht/ nicht im Auftrag, es in
die Luft zu sprengen./ Die grobe Seele und eiserne Faust/ hält er von
Natur aus für unwürdig./ Er hebt seine Augen nicht zum Offizier/ oder
zum Soldaten mit dem Finger am Abzug/ sondern zur Gerechtigkeit. /Und er
weint vor Mitleid./ deshalb wird er kein Land stehlen / und sein Volk
auch nicht in Lagern hungern lassen./
Die Stimme, die nach Vertreibung ruft/ wird
aus der rauen Kehle des Unterdrückers gehört -/ Ein sicheres Zeichen
dafür/ dass der Jude ein fremdes Land betreten hat/ und wie Umberta Saba
sich in seiner eigenen Stadt verbergen wird. / Wegen der Stimmen wie
diesen/ Vater du mit deiner Familie geflohen/ als du sechzehn warst/
Du bist aus Rypin geflohen/ Nun hier ist dein Sohn Rypin.
Und wenn dies bedeutet, Jude zu sein – und
ich bin überzeugt davon – dann nenne mich einen Juden. Nennt uns alle
Muslime, Christen und Juden. Nennt uns menschliche Wesen, die glauben,
wenn einer von uns leidet, dann leiden alle von uns, dass wir nie fragen
müssen, für wen die Glocke läutet, sie läutet für uns alle, dass die
Tränen der Mutter im Gazastreifen unser aller Tränen sind, dass das
Weinen der Kinder im Al-Shifa-Krankenhaus das Weinen von unsern eigenen
Kindern ist.
Lassen Sie mich heute Abend mit einem
letzten Namen enden: Lassen Sie mich die mit Namen nennen, die diese
Panzer und Kampfflugzeuge senden, um die armseligen Hütten im
Gazastreifen zu bombardieren, in denen sich die Familien hilflos
zusammenducken; lassen sie mich die mit Namen nennen, die den Kindern
das Recht auf ihre Kindheit nehmen und den Kranken das Recht, gepflegt
zu werden, und lassen Sie mich die mit Namen nennen, die foltern und
jene die in Hotelzimmern in Dubai und auf den Straßen von Gaza Morde
ausführen, und jene, die den Hungernden die Nahrung, den Unterdrückten
die Gerechtigkeit verweigern, und die Wahrheit mit offizieller
Propaganda und mit Staatslügen verpesten. Lassen Sie mich diese nicht
mit ihren ehrenvollen Titeln und Machtpositionen nennen, sondern mit dem
Namen, den sie selbst verdient haben, indem sie das Blut der
Unschuldigen in den Sand von Gaza fließen ließen.
Last sie mich das nennen, was sie sind:
Terroristen.
(dt. und geringfügig gekürzt: Ellen Rohlfs
-- inzwischen auch bei Tlaxcala im Internet zu finden)
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