Oktober 2003
Apartheid im Heiligen Land
von Bärbel A. Krumme
Einleitung
Israel soll sich behaupten. Israel wünsche
ich Land und einen sicheren Staat, auf dem die Menschen des durch uns auf
grausamste Weise dezimierten, verängstigten, verjagten und geschundenen
Volkes ein Zuhause haben. Haben wir es nicht selbst zu verantworten, dass
Menschen, um ihr Leben zu retten, auswandern mussten und dass der Staat
Israel für die westlichen Länder deshalb so bequem, so wichtig und um
jeden Preis unterstützungswürdig wurde?!
An die anderen Menschen, die
Palästinenser, die eingeengt und in ihren Rechten beschnitten wurden,
trauen wir uns deshalb auch heute noch nicht so richtig zu denken. Wir
schauen weg. Und, schon wieder begehen wir Unrecht, weil wir nicht die
Zivilcourage aufbringen, Unrecht beim Namen zu nennen. Wollten wir nicht
mutiger sein als unsere Elterngeneration? Wollten wir nicht aus unserer
Geschichte lernen und den Mund aufmachen?
Wir kommen ohnehin reichlich spät. Die
Tatsachen sind geschaffen. Das Land der Palästinenser ist zerstückelt
worden durch riesige Betonsiedlungen auf den weit sichtbaren Hügeln, auf
denen sich früher Pinienwälder und zu dessen Füssen Olivenhaine der
palästinensischen Bevölkerung breit machten. Um die Siedlungen herum
zerschneiden breite Asphaltstraßen die Landschaft. Schlimmer noch sind die
Straßensperren der israelischen Soldaten, welche die Palästinenser
hindern, zu einem Teil ihrer Landsleute zu kommen und die Stadt zu
besuchen, die auch den Moslems und Christen unter ihnen gleichermaßen
heilig ist: Jerusalem.
Reise in die
Westbank
Im September war ich in Bethlehem, um
meinen Teil der Evaluation des Babyhospitals durchzuführen, nachdem meine
Kollegin, Dr. Gisela Sperling, als Kinderärztin ihren Teil zwei Wochen
zuvor abgeschlossen hatte. Kurz vor dem Hospital befindet sich die
Blockade der Israeli, die von Jerusalem aus in die C‑Region führt, eine
von Israeli verwaltete und gesicherte Zone. Hier unterliegen die
Palästinenser auch dem israelischen Recht. Hinein darf nur, wer entweder
eine Genehmigung oder, wie ich, einen ausländischen Reisepass mit einem,
am Flughafen ausgestellten, Sonderausweis hat.
Ich kann also diese Soldatensperre nach
mehr oder weniger Wartezeit passieren, sofern ich entweder zu Fuß bin oder
aber in einem Fahrzeug mit gelbem Nummernschild fahre. Nicht so Dr.
Shomali, der Chefarzt der Klinik. Sein Auto hat ein grünes Nummernschild,
das für ,normale' Palästinenser ohne besondere Privilegien gilt. Ich bat
ihn, mit mir gemeinsam das Makassed Hospital in Ostjerusalem zu besuchen,
keine halbe Stunde Fahrzeit von Bethlehem entfernt. Es ist die einzige
Weiterbildungsstätte für Fachärzte im vorletzten Weiterbildungsjahr und
wichtigstes Referenzkrankenhaus für Säuglinge und Kinder mit besonders
schweren und komplizierten Krankheiten, die man in Bethlehem nicht
behandeln kann. Mehr als eine Woche vorher hatte deshalb die
Hospitalverwaltung eine Genehmigung beantragt, die schließlich gewährt
wurde. Voraussetzung war, dass der Chefarzt persönlich drei Stunden
Wartezeit bis zur Aushändigung in Kauf nahm, ohne sichtbaren Grund. Das
Wartenlassen hat System bei den israelischen Machthabern. Deshalb
versicherte mir Dr. Shomali, der vor 3 Jahren zum letzten Mal in Jerusalem
gewesen war, dass er diese Prozedur auch so schnell nicht wieder
durchmachen wolle. Zu demütigend sei dies für ihn.
Der Kollege Dr. Nasser wohnt nahe Ramallah
mit Frau und Kindern. Er hat in den USA studiert und geheiratet. Seine
Frau hatte eine Green Card. Sie kam seinetwegen zurück in die Westbank. Da
er in Bethiehem arbeitet, hat er eine besondere Genehmigung, die dem Arzt
das Passieren von Soldatensperren von der Autonomie‑, oder A‑Zone, in die
B‑ oder CZone gestattet, so weit diese Übergänge auf seinem Weg zur
Arbeit liegen. Den weit kürzeren Weg über Jerusalem darf er jedoch nicht
nehmen. Trotz der Genehmigung wird er oftmals zurückgeschickt, je nach
dem, wie es den Soldaten gerade in den Sinn kommt. Als engagierter Arzt
und Familienvater, der bei Nichterscheinen, Gehaltskürzungen zu erwarten
hat, versucht er dann über die Hügel durch steiles, steiniges Gelände zu
Fuß das Krankenhaus zu erreichen. Da die Hügel meist ohne Vegetation freie
Sicht zulassen, ist das nicht nur sehr anstrengend, sondern auch
gefährlich. Die Soldaten könnten schießen.
Sein Kollege vom staatlichen
Allgemeinkrankenhaus in Beit Jala, bei Bethlehem, kam in der Zeit meines
Aufenthalts mit zerrissenem Hemd und völlig verschmutzt etwa gegen Mittag
im Hospital an, nachdem er um 5 Uhr morgens von zuhause aufgebrochen war.
Er, der Röntgenologe hatte sich, wie ein Dieb, unter einem Zaum
durchquetschen müssen.
Es handelt sich um eine Entfernung von ca.
75 km mit ausgebauten Strassen, auf denen es nicht schwierig ist,
jederzeit in ein Taxi zu steigen. Auf meiner Fahrt nach Ramallah musste
ich auf derselben Strecke in vier verschiedene Taxis steigen, die jeweils
vor einer Soldatensperre ihre Fahrt beenden mussten. Ich hatte das Glück,
jedes Mal zu Fuß durchgelassen zu werden. Die steilen Hügel wäre ich nicht
hinauf und herunter gekommen.
Hiyam, die einzige Frau unter den
Kinderarztkollegen des Hospitals, die in Deutschland studiert hat und
unsere Sprache fließend beherrscht, berichtete von ihrem Vater, einem Mann
in fortgeschrittenem Alter, der durch den Zaun der Israeli, dem Vorboten
der geplanten Mauer, von seinen Olivenhainen getrennt wurde. Zur Erntezeit
beantragte er Zugang zu seinen Olivenbäumen, um wie in jedem Jahr, zu
ernten und sein Olivenöl herzustellen. Es wurde ihm nicht gestattet. Viele
Palästinenser haben durch den Wahnsinn dieses Zauns den Grund und Boden
ihrer Väter und ihre Existenz ohne Entschädigung verloren. Es ist
gestohlen worden. In der Umgebung des Kinderkrankenhauses in Bethlehem,
nahe dem Grab von Rahel, wo die israelische Mauer Bethlehem umzingeln und
von seinem Hinterland abschneiden soll, wird es in Zukunft noch viel mehr
Menschen in ähnlicher Weise treffen. Wenn, ja wenn, Niemand diesem
Wahnsinn endlich ein Ende setzt.
"Ein Mandela müsste es hier geben", sage
ich beim Kaffee im Kollegenkreis. "Ohne Willem de Klerk ging es nicht.
Mandela saß im Gefängnis", berichtigt Majid, mein Gegenüber.
Die Familie von
Carmen und Georges
Vom Esstisch meines Appartements auf dem
Hospitalgelände sieht man die israelische blau‑weiße Flagge mit dem
Davidstern. Sie weht auf einem großen, halb fertigen Gebäude, das die
anderen überragt. Erst in der zweiten Woche höre ich zufällig von einer
alten, mutigen oder ‑ sollen wir sie starrsinnig nennen? ‑
palästinensischen Frau, die dort nachts mit ihrem Sohn ausharrt. Es geht
ihr darum, Eigentum und Existenz ihrer Familie zu retten. Ich bekomme die
Gelegenheit, sie zu besuchen.
Carmen ist Witwe, eine zierliche Frau mit
feinen Gesichtszügen und schlohweißem Haar. Zwei Jahr nach ihrem Mann ist
auch ein Sohn an Krebs gestorben. Das war zu Beginn der zweiten oder Al
Aqsa Intifada. Der andere Sohn, Georges, der bei unserem Besuch anwesend
ist, hatte das Restaurant und Hotel geführt. Beides befand sich in den
unteren Räumen des Hauses. Meine Begleiterin erinnert sich noch an ein
festliches Essen, an dem sie in den Räumlichkeiten teilgenommen hatte. Das
war kurz vor dem Umbau vor etwa 3 Jahren. Die Familie des verstorbenen
Bruders mit 3 kleinen Kindern und Georges Frau mit den eigenen 6 Kindern
wohnten im Haus und lebten vom Gewinn aus der Gastronomie.
Vor der letzten Intifada war der Tourismus
in Bethiehem wieder aufgelebt und 80% der Bevölkerung lebte von ihr.
Georges beschloss, das vom Vater ererbte Geld in sein Haus zu investieren,
um die große Familie abzusichern. Er war als fleißiger Mann in der ganzen
Gegend bekannt und beliebt und hatte immer gut zu tun gehabt. Er stockte
das Gebäude auf, was ihm zum Verhängnis wurde. Es bot damit eine weite
Aussicht für die Soldaten. Diese beschlagnahmten es und machten es zu
einem ihrer Stützpunkte.
Zunächst weigerte sich die Familie
auszuziehen. Die Soldaten aber fanden Mittel, die Mütter mit den Kindern
aus dem Haus herauszudrängen: die Soldaten urinierten von den oberen
Stockwerken auf die Kinder und entblößten sich vor ihnen, wenn diese
durchs Haus liefen oder im Garten spielten. Schließlich nahmen sie ihnen
sogar Spielzeug ab. Sie verboten den Eingang und das Treppenhaus zu
benutzen und verbarrikadierten es mit Stacheldraht. Einmal fesselten die
jungen Soldaten, wie zum Spiel, die alte Dame. Erst ein herbeigerufener
höherer Offizier machte dem grausamen Treiben ein Ende. Am bedrohlichsten
aber wurde es für Georges, auf den zwei Mal von den oberen Stockwerken ein
Metallgerüst geworfen wurde, das ihn glücklicherweise beides Mal knapp
verfehlte. Ich würde das alles nicht für möglich halten, wäre ich nicht
selbst gezwungen gewesen, über die unfertige Hintertreppe ohne Stufen in
halsbrecherischer Weise zur Wohnung hochzuklettern, den Stacheldraht und
die Zerstörung zu sehen und im Dunkeln bei Taschenlampenschein nach dem
Besuch wieder herunter zu klettern.
Denn außer in zwei Zimmern der Wohnung und
in der Etage der Soldaten gibt es keinen Strom. Dafür aber erhalten Carmen
und Georges monatlich eine Stromrechnung. Die palästinensischen Behörden
sind gezwungen, das Geld für den Stromverbrauch einzutreiben. Sie trauen
sich aber selbst nicht ins Haus, um den Stromzähler abzulesen. Denn der
ist im verbotenen Treppenhaus. So wird monatlich eine Fantasiesumme
eingetragen, die bezahlt werden muss, um sie an die Israelis abzuführen.
Denn das von den Israelis verwaltete Gebiet ist gezwungen, den Strom aus
Israel zu kaufen. Eine Entschädigung erhält die Familie von keiner Seite.
Sie sind ein Sozialfall geworden.
Die Mütter und Kinder sind mittlerweile in
sehr einfachen Wohnverhältnissen in der Innenstadt von Bethlehem
untergekommen. Von einer Wohlfahrtseinrichtung in Jerusalem wurde Georges
ein Kredit gewährt, der für Miete und Einrichtung einer Imbissstube in
Bethlehem reichte. Er hat zudem einige Schulden gemacht. Nun wartet er
vergeblich auf die Touristen, die helfen könnten, seine Existenz zu
sichern. Er wartet mit vielen anderen Bewohnern in Bethlehem bisher
vergeblich.
Da er sich verpflichtet fühlt, die Mutter
nachts nicht allein in dem unheimlich dunklen Haus schlafen zu lassen,
lebt seine Familie quasi getrennt. Es gibt Spannungen zwischen den
Eheleuten und die Kinder vermissen ihren Vater. So schnell kann Wohlstand
und ein normales Familienleben zunichte gemacht werden.
Bethlehern soll
eingemauert werden
Dies ist kein Einzelfall. Die meisten
Häuser in der Umgebung des israelischen Wachtpostens sind leer. Die
Bewohner wurden aufgefordert zu gehen. Es widersetzten sich nur der
Bürgermeister und seine Tochter im Hause nebenan, die sich einen
einflussreichen Rechtsanwalt leisten konnten, sowie der Apotheker und der
Kolonialwarenhändier in den Häusern gegenüber. Die Geschäfte gehen sehr
schlecht, weil nur die Kunden mit Autos sich noch aus Solidarität bei
Helligkeit in diese Gegend trauen. Hier sausen regelmäßig ein oder
mehrmals täglich die israelischen Busse mit Soldatenbegleitung mit
Gläubigen vorbei, die am Grab von Rahel beten wollen. Auch ich konnte das
Grab besuchen. Es ist wie eine Festung gesichert.
Diese Gläubigen können weder am
Kolonialwarenladen anhalten noch kommen sie mit Palästinensern ins
Gespräch. Jeglicher Kontakt, der Verständnis fördern könnte, wird von
vornherein unterbunden. Der Kolonialwarenhändler ist gezwungen, alles, was
nicht in der Westbank hergestellt werden kann, aus Israel einzuführen.
Seinem Nachbarn, dem Apotheker geht es ebenso.
Was tun wir?
Was machen wir Helfer aus dem Westen in
dieser Situation? Wir erleben, dass die Christen unter den Palästinensern
scharenweise um Asyl in den Vereinigten Staaten von Amerika und anderen
westlichen Ländern bitten und immer weniger werden. 25% Christen lebten
früher in Bethlehem. Heute spricht man von 1‑3 %. Wir erkennen, dass der
Prozentsatz der Christen in der palästinensischen Bevölkerung überall
kleiner wird. So versuchen wir vorrangig, mit besonderen Hilfen, die
Christen zu bevorzugen, um sie zum Bleiben zu bewegen. Verständlich.
Ähnlich machen oder machten es die arabischen Staaten vor Ausbruch des
ersten Golfkrieges ja auch mit den Moslerns, so die Rechtfertigung. Auf
diese Weise sind aber mit unserer Hilfe zwei religiöse Lager mit unnötiger
Grenzziehung in den Köpfen der Menschen entstanden und die Christen fühlen
sich immer mehr als Minderheit bestätigt und igeln sich ein. Eine
Bärenhilfe, die wir da unseren Glaubensbrüdern zukommen lassen! Sie
bewirkt ihre zunehmende selbst mitverursachte Einengung und Entfremdung
unter den Landsleuten. Dazu kommen andere Mechanismen, welche die
Palästinenser zu entzweien drohen: die Begünstigung derer, die in
Jerusalem Wohnrecht erhalten haben und in den Genuss der besseren
Lebensbedingungen und größeren Freizügigkeit kommen. Dann die Begünstigung
von Flüchtlingscampbewohnern, die diesen Flüchtlingsstatus behalten, auch
wenn sie nicht mehr bedürftig sind und die Gegend schon lange nicht mehr
zu Jordanien gehört. Sie erhalten Hilfen durch die UNRWA, die den intern
Vertriebenen unter den Palästinensern verwehrt wird. Die sozialen
Unterschiede zwischen den Flüchtlingen' sind groß. Andere Kriterien
müssten gefunden werden, um die Bedürftigsten zu erreichen.
All diesen Hilfen fehlt ein
Friedenskonzept. Die Botschaft und Mahnung des Buches von Mary B.
Anderson"Do No Harm. How Aid Can Support Peace ‑ Or War"' ist hier bisher
noch nicht angekommen.
Willem de Klerk wurde 1989 zum Präsidenten
von Südafrika gewählt, weil es einen klaren Standpunkt der
Weltöffentlichkeit gegen Apartheid in Südafrika gab, der sogar in
Sanktionen zum Ausdruck kam. Die Christen in aller Welt leisteten ihren
Beitrag. Sie fanden in Bischof Desmond Tutu einen mutigen Anführer.
Praktizierte Ökumene verband die Christen und bündelte ihre Kraft.
Hat nicht die westliche Welt damals
entscheidend der weißen Bevölkerung zum Frieden verholfen, in dem sie sich
entschieden gegen Apartheid wandte?
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Frau Dr.
Bärbel Krumme ist Ärztin beim Missionsärztlichen
Institut in Würzburg und besuchte im September 2003 das
Caritas-Babyhospital.
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' 1999 by
Lynne Rienner Publishers, Inc., 3 Henrietta Street, Covent Garden, London
WC2E8LU ISBN 1
55587‑834‑2 |