Violet Bishara Mitri Al Raheb
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Biografisches:
Violet Bishara Mitri Al Raheb wurde am 2. Oktober 1969 in Betlehem
geboren, als Tochter einer alteingesessenen Familie
palästinensischer Christen. In Bethlehem wuchs sie auch auf und
besuchte die "Evangelisch-Lutherische-Schule", wo sie 1987 ihr
Abitur machte. Danach kam sie zum Studium nach Deutschland. An der
Ruprecht-Karl-Universität in Heidelberg studierte sie Pädagogik und
Theologie, wo sie 1995 mit dem Magister Artium abschloss.
Quelle
Sie ist die Schwester von Pfr. Mitri
Raheb, Internationales Begegnungszentrum Bethlehem) und
Schulrätin im Westjordanland. Sie leitet das Programm von fünf
Schulen der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Jordanien und
Palästina (ELCJ).
Quelle
Aktivistin und Schriftstellerin, Mitglied des Netzwerkes für
Friedenserziehung im Weltkirchenrat sowie Mitglied der
Beratungskommission des ÖRK für die Dekade zur Überwindung der
Gewalt |
März 1995 - Dezember 1998: International
Center of Bethlehem, Leiterin der Abt. Öffentlichkeitsarbeit und
Erwachsenenbildung
Sept. 1995 - November 1998: Evangelical
Lutheran Church in Jordan and Palestine (Stellvertretende
Schulleiterin)
Sept. 1995 - November 1998: Education
for Awareness and Involvement (Programmkoordinatorin)
Dezember 1998 - bis heute: Evangelical
Lutheran Church in Jordan and Palestine (Schulleiterin)
Dezember 1998 - bis heute: Education for
Awareness and Involvement(Programmdirektorin)
Mitgliedschaften / Aktivitäten:
März 1993 - März 1994: German
Palestinian Association (Stellvetretende Vorsitzende)
März 1994 - März 1995: German Palestinian Association (Vorsitzende)
März 1995 - bis heute: Al-Liqa' Zentrum für religöse und
volkskundliche Studien im Heiligen Land, Mitherausgeberin des "Arabic
Journal", Mitglied des "Committee for Contextual Theology"
Juni 1995 - Januar 1999: Evangelical
Lutheran Church in Jordan, Mitglied des "Evangelical Lutheran School
Board"
Juni 1996 - bis heute: The Middle East
Council of Churches, Mitglied des "Human Rights Advisory Board" & "The
local coordinator of Palestine on Human Rights
Mai 1997 - bis heute: The Fellowship of
The Middle East Evangelical Churches, Vorsitzende des "Committee on
Christian Education", Mitglied des "The Evangelical School Board in
the Middle East"
1998 - bis heute: World Conference on
Religion and Peace (WCRP),Mitglied des "Advisory Council of the
Peace Education Standing Commission"
Juni 1999 - bis heute: Palestinian
Ministry of Education, Mitglied des "National Committee for
Curriculum Development for the Subject of Christian Religious
Education"
1999 - bis heute: Oslo Coalition on
Freedom of Religion or Belief, Mitglied des "Advisory Board"
August 1998 - März 2000: Higher
Ministerial Commission for Church Affairs, Koordinatorin des "PLO-Vatican
Basic agreement team"
Dezember 1998 - bis heute: Evangelical
Lutheran Church in Jordan, Mitglied der Synode
2000 - bis heute: North-South Prize
against oblivion, Mitglied der Jury
Juli 2001 - bis heute: World Council of
Churches, Mitglied des "Peace Educators Network"
August 2001 - bis heute: Lutheran World
Federation, Mitglied des "Regional Christian Education Network"
Publikationen: (Auswahl)
"Zwischen nationaler Identität und
Geschlechterkampf", in: Naher Osten-Ferner Frieden?
: Israel Palaestina. Probleme des Friedens. Politische
Schriftenreihe 1996/4, Komzi vrlg. 1997.
"Das Schulsystem in Palästina" &
"Bildung ist ein Weg zur Veränderung. Der Einfluss der Politik auf
das Bildungssystem in Palästina.",
in Verwurzelt im Heiligen Land - Einführung in das Palaestinensische
Christentum, Frankfurt 1995.
"Schlusswort einer christlichen
Palästinenserin",
in: Deutsch-Palästinensische Gesellschaft e.V. (ed.),
Themenheft "Palästinensische Frauen" zum Weltgebetstag der Frauen
1994 (Info-Brief 23/1994).
"Einander Hören und um Erlösung beten
für alle",
in: Frauen unterwegs 2/1994
"Die Recht fordernde Witwe",
in: Deutsch- Palästinensische Gesellschaft e.V. (ed.), Themenheft
"Palästinensische Frauen" zum Weltgebetstag der Frauen 1994
(Info-Brief 22/1993).
"Wir finden unseren eigenen Weg"
, in: Schneller Magazin 2/1992.
" Bildung als Herausforderung"
, in: Palästina Verstehen 40/1998
"Leben mit der Angst",
in: Israel 1998.
Quelle
Geboren zu Bethlehem
Notizen aus einer belagerten Stadt
Viola Raheb
Vorwort
von Manfred Erdenberger, politischer Chefkorrespondent des WDR,
Köln;
AphorismA Sonderheft 16, Frühjahr
2003, 3-932528-72-7, € 7,50
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Links zur Person: Violet Bishara
Mitri Al Raheb |
"Gebt Eure Neutralität auf und unterstützt die
Menschen, die für Frieden eintreten"
Interview mit Viola Raheb
Zivilcourage, Juli/August 2001 |
»Endlich wieder in
Bethlehem«
Ein Tagebucheintrag von
Viola Raheb
(Mai 2002)
Teil1
/
Teil2
/
Teil3
/
Teil4
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Bethlehem zwischen Hoffnung und
Hoffnungslosigkeit Akrobaten auf dem dünnen Seil |
Israel hat sich in die
schwierige Lage gebracht |
Das ZC Gespräch
... mit der Palästinenserin Viola Raheb über das Scheitern des
Friedensprozesses im Nahen Osten,das israelische Bedürfnis nach
Sicherheit und ihre Erwartungen an die deutsche Friedensbewegung (pdf) |
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„Geboren
zu Bethlehem“
Notizen
aus einer belagerten Stadt
Ein Titel eröffnet die ganze
Spannung, die die Assoziationen zu dieser Stadt in mir zulassen.
Spätestens während der Belagerung der Geburtskirche durch das israelische
Militär im April 2002 zerbrachen für mich die Klänge vertrauter
Weihnachtslieder unter dem Beschuss der Geburtskirche.
Viola Raheb wuchs mit Blick auf
diesen über Jahrhunderte hin verehrten Ort auf. Schon als Kind erlebte sie
ihre Stadt nicht so, wie er in unserer Phantasie lebt. Um wie viel weniger
hat die heutige Realität etwas mit der Darstellung in unseren Krippen zu
tun.
Die Realität täglichen Lebens
unter den Bedingungen von Unterdrückung, Besatzung und Krieg beschreibt
die Autorin aus eigenem Erleben mit direkten Worten. Mit ihrer
detaillierten Beschreibung lassen die emotional sehr berührenden Texte den
Leser etwas von der Demütigung, Ohnmacht und Verzweiflung spüren von der
bereits mehrere Generationen von Palästinensern geprägt sind.
Nirgends kippt der Text in
jammerndes Wehklagen oder zerstörenden Hass. Kritische Anfragen, warum sie
keinen dieser beiden Wege einschlägt, beantwortet sie mit einem
persönlichen Glauben, der sich in der Tradition der Klagepsalmen die Kraft
holt, wider jede Entmenschlichung einzutreten.
Ihr Umgang mit biblischen Texten
bekommt Kraft und Verbindlichkeit durch die Einbettung der Lektüre in der
gegenwärtigen Situation des "Landes der Bibel". Die dabei aufbrechenden
Fragen werden nicht "theologisch geglättet" sondern regen an zu einer
vertieften Auseinandersetzung mit Gott und seiner Geschichte mit den
Menschen.
Mit klarem rationalem Blick
analysiert sie die gesellschaftliche und politische Situation ihres Landes
und der israelischen Besatzungspolitik. Dabei entlarvt sie unter anderem,
wie westlichen Medien durch unbedachte Übernahme einer US Studie,
ungerechtfertigte Vorurteile gegen ihr Volk verbreiten. Die erwähnte
Studie eines der wichtigsten der US Administration nahestehenden
Institutes ist ein erschreckendes Beispiel unserer gelenkten Information.
Als persönlich betroffene Frau,
muss sie parteilich sein in dem Sinn, dass sie das Leben und ihres Volkes
aus der Innenperspektive beschreibt. Und sie ist parteilich für einen
Frieden, der beiden Völkern Lebensraum in diesem Land schaffen soll. Diese
Parteilichkeit begründet auch ihre Kritik an der im Westen üblichen
"entweder/oder" Solidarität für Israel ODER Palästina. Sie wirbt für eine
„Querschnitt – Solidarität“ mit denen, "die sich über die nationalen,
religiösen und politischen Grenzen hinweg für Frieden und
Gerechtigkeit einsetzen".
So wird das Buch zu einem
lebendigen Zeugnis, daß "Frieden weit mehr Courage braucht als Krieg", zum
Zeugnis einer Frau, die sich nicht "den tödlichen Luxus von Hilflosigkeit
und Hoffnungslosigkeit leistet" sondern Kraft sucht für "den einen
langen Marathon, der wagemutig, wahnsinnig und eigenartig erscheinen mag.
Andreas Paul
Vorwort
von Manfred Erdenberger, politischer Chefkorrespondent des WDR,
Köln;
AphorismA Sonderheft 16, Frühjahr
2003, 3-932528-72-7, € 9:
AphorismA Sonderheft 16, 3. ergänzte Auflage Frühjahr 2004,
3-932528-72-7, €
www.aphorisma.net
- Leseprobe:
www.sion.at |
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»Endlich wieder in
Bethlehem«
Ein Tagebucheintrag von Viola Raheb
(Mai 2002)
Endlich kann ich wieder nach Hause.
Der Weg in meine Wohnung führt durch die Bethlehemer Altstadt. Die kurze
Strecke von nur wenigen hundert Metern, die mir seit meiner Kindheit so
vertraut ist, ist mir an diesem Morgen völlig fremd. Überall liegen
Müllberge, von Panzern niedergewalzte Autos, Trümmer und zerbrochenes
Glas. Es herrscht entsetzlicher Gestank. Das Atmen fällt schwer.
Unruhiger Schlaf im Haus ohne Türen
und Fenster
Ich versuche, telefonisch Handwerker
aufzutreiben und tatsächlich kommt nur wenig später ein Schreiner vorbei.
Die Reparaturarbeiten dauern mindestens eine Woche, lautet seine nüchterne
Bilanz. Der Schaden ist groß. Nachbarn raten mir, ich solle lieber wieder
in das Haus meines Bruders zurückkehren. Doch mein Entschluss steht fest:
Ich werde heute Nacht hier schlafen. Den ganzen Tag verbringe ich mit
Putzen und Aufräumen. Bei Anbruch der Dunkelheit falle ich erschöpft ins
Bett: Ein merkwürdiges Gefühl, in einem Haus ohne Fenster und Türen zu
übernachten! Von überall zieht es. Ich versuche einzuschlafen. Vergeblich.
Ich bin zu unruhig. Bei jedem Geräusch stehe ich auf, knipse das Licht an
und schaue nach, ob sich nicht doch jemand eingeschlichen hat. Erst in den
frühen Morgenstunden fallen mir die Augen zu.
Als ich kurz vor Ostern meine
Heimatstadt für eine zehntägige Vortragsreise verließ, dachte ich nicht im
Traum daran, dass sie wieder von israelischem Militär besetzt werden
könnte. Obwohl das nach den Ereignissen der letzten Monate gar nicht so
abwegig war. Ich machte mir Sorgen um meine Familie.
Schwarz ist die Farbe der Trauer
Donnerstag, 11. April. Die Heimreise
über Jordanien ist anstrengend und demütigend. An der Grenze sind kaum
Menschen zu sehen. Bis auf ein paar Frauen will niemand die Brücke nach
Palästina ueberqueren, scheint niemand in das Land der Kriege zurückkehren
zu wollen. Seltsam, dass gerade Frauen sich in solchen Zeiten auf die
Reise begeben.
Ich lege meinen Koffer auf das
Gepäckband. "Wem gehört der?" herrscht mich einer der jordanischen Beamten
an. "Mir", entgegne ich ruhig. "Öffnen!" verlangt er. Ich mache den Koffer
auf und muss mit ansehen, wie der Beamte und seine Kollegen alles
durchsuchen. Sie nehmen einige Musik CDs heraus und beäugen sie kritisch.
"Warten Sie hier!" sagt einer von ihnen und nimmt die CDs mit. Ich warte.
Nach etwa einer halben Stunde kommt er zurück und winkt mir, ihm zu
folgen. "Wir haben einige Fragen an Sie". Ich folge ihm durch einen
schmalen Korridor, bis wir in ein Büro kommen. Der Mann hinter dem
Schreibtisch, offensichtlich ein Vorgesetzter, bedeutet mir, Platz zu
nehmen. "Gehören diese CDs Ihnen?" fragt er. "Ja", erwidere ich, "gibt es
ein Problem?" "Sind darauf revolutionäre politische Lieder?" fragt er.
"Politische Lieder?!" Ich bin überrascht. "Nein, auf zwei CDs ist
instrumentale Jazz-Musik und auf der dritten sind Lieder über das Leben
und die Liebe", versichere ich. Doch er lässt sich nicht beeindrucken,
öffnet die CDs und schaut sich scheinbar interessiert die Texte an. Ich
würde ihn gerne fragen, ob er deutsch lesen könne, lasse es dann aber
sein, um mir weiteren Ärger zu ersparen. Nachdem die Sache mit den CDs
geklärt ist, schaut er mich an und fragt, warum ich Schwarz trage. Schwarz
ist auch bei uns die Farbe der Trauer. "Haben Sie jemanden verloren?"
fragt er mit einem leisen Anflug von Anteilnahme. "Ja, meine Heimat" gebe
ich zur Antwort. Er antwortet nicht.
Wie nach Hause kommen ?
Nach anderthalb Stunden darf ich
endlich weiter reisen. Unter den Augen des Beamten besteige ich den Bus,
der mich über die Jordanbrücke auf die israelische Seite bringen soll. Was
für ein Leben! In meiner Heimat herrscht Krieg und hier hat man Angst vor
Liedern! Die anderen Frauen sitzen schon im Bus. Eine kommt aus Nablus,
zwei aus Jenin, fünf aus Ramallah und eine aus Hebron. Uns beschäftigt nur
ein Gedanke: wie nach Hause kommen? Unsere Städte sind von israelischem
Militär umzingelt und zu Sperrgebieten erklärt worden.
Auf der israelischen Seite der
Grenze angekommen, müssen wir wieder warten, bis wir von den Grenzbeamten
einzeln aufgerufen werden. Und wieder werden unsere Koffer durchsucht. Es
vergehen weitere zwei Stunden. Endlich ist die Prozedur überstanden. Jetzt
heißt es: ein Taxi finden, das bereit ist, uns in unsere Heimatorte zu
fahren. Natürlich nutzen die Taxifahrer die Gelegenheit, Geschäfte zu
machen. Da niemand in meine Richtung fährt, muss ich einen Wagen für mich
allein mieten. Der Fahrer verlangt für die Fahrt nach Abu Dis, kurz vor
der Stadtgrenze Jerusalems, das Zehnfache des sonst üblichen Preises: 100
Dollar. "Von dort aus musst du alleine sehen, wie du weiterkommst,"
erklärt er. Ich willige ein. Eine andere Wahl habe ich ohnehin nicht. In
Abu Dis finde ich glücklicherweise ein anderes Taxi, das bereit ist, mit
mir die schwierige Strecke über Wadi Nar zu fahren. Allerdings sagt der
Fahrer gleich im Voraus, er fahre auf keinen Fall weiter als bis zur
Stadtgrenze von Beit Sahour. Das ist ein Nachbarort von Bethlehem.
Mit zwei Koffern durch die Wüste
Anfangs kann ich die Strecke, die
wir fahren, noch wiedererkennen, doch dann müssen wir kleine holprige Wege
nehmen, die eigentlich gar keine Wege sind, sondern von Menschen, die in
der gleichen Lage sind wie wir, aus Not dazu gemacht worden sind. Ich muss
an meine Ausreise denken. Da war Bethlehem noch nicht wieder besetzt, von
israelischem Militär aber bereits umzingelt. Um an die Grenze zu Jordanien
zu kommen, musste ich am St. Georgskloster, kurz vor Jericho, in einen
anderen Wagen wechseln und schließlich mit zwei Koffern in der Hand drei
Stunden durch die Wüste laufen.
Nach fast sieben Stunden sind wir
endlich kurz vor Beit Sahour. Der Taxifahrer macht kehrt. Wegen der
Ausgangssperre kann er nicht weiter fahren. Ich komme erst einmal bei
Freunden unter und warte darauf, dass die Ausgangssperre aufgehoben wird.
Vom Stadtzentrum aus will ich versuchen, weiter nach Bethlehem zu kommen.
Nach ein paar Stunden ist es so weit. Diesmal schaffe ich es bis zum Haus
meiner Kusine, die an der Stadtgrenze von Bethlehem wohnt. Weiter komme
ich nicht.
Von meiner Kusine aus rufe ich alle
nur erdenklichen Leute an, in der Hoffnung, sie könnten mir helfen, zu
meiner Familie zu gelangen. Vergeblich. Sogar beim Roten Kreuz versuche
ich es . Ich erkläre, dass meine Familie zu fünft in ihrem Haus festsitze
und kaum mehr zu essen habe. "Da ist nichts zu machen", lautet die
Antwort: "Ihre Familie lebt in einem völlig abgeriegelten Gebiet. Da kommt
niemand durch". Ich frage mich, wozu wir internationale
Hilfsorganisationen benötigen, wenn nicht einmal sie in die gesperrten
Gebiete können?! Drei Tage sitze ich im Haus meiner Kusine fest.
Tränengasbomben zum Abschied
Sonntag, 14. April. Nachts, als wir
gerade ins Bett gehen wollen, kommt plötzlich ungeheurer Lärm auf. Das
Haus meiner Kusine liegt an einer Hauptstrasse. Durch das Fenster erkenne
ich neun israelische Panzer. Einer macht direkt vor dem Hauseingang halt.
Blitzschnell springen fast 200 Soldaten aus den Panzern und verteilen sich
in alle Richtungen. In Windeseile ist das Haus von Scharfschützen
umstellt. An jedem Fenster einer. Jemand klopft an die Wohnungstür. Es
sind die Nachbarn. Ein altes Ehepaar, ihr Sohn, seine Frau und seine fünf
Jahre alte Tochter. Zu siebt suchen wir Schutz im Treppenhaus. Es wird
nicht lange dauern, denken wir. Doch die Soldaten ziehen nicht ab, sie
beginnen von ihrem neuen Stützpunkt aus Haus für Haus zu durchsuchen. Fünf
Stunden verbringen wir im Treppenhaus. In der Morgendämmerungziehen die
Scharfschützen sich dann endlich zurück, zwei junge Männer mit verbundenen
Augen und gefesselten Händen im Schlepptau. Zuvor setzen sie noch ein Haus
in Brand und verschießen zwei Tränengasbomben - zum Abschied.
Überall waren Scharfschützen
postiert
Vier Uhr morgens. Wir können nicht
einschlafen. .
Quelle und mehr |
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Die Zerstörung Bethlehems -
Terrorbekämpfung?
Ein Augenzeugenbericht von Viola
Raheb
27.4.2002
Der Krieg gegen Terror nimmt viele Gesichter an. Die politischen
Koalitionen werden immer neu gemischt. Vor ca. einem Monat begann
die israelische Militäroffensive in den palästinensischen Gebieten.
Für die Regierung Scharons eine klare Aktion gegen die sogenannten
"Terrornetze" Palästinas. Die am Anfang noch unter internationale
Kritik geratene Politik ist inzwischen eine geduldete Politik,
sowohl seitens der Europäer als auch seitens der Amerikaner. Die
Welt, die vor dieser Militäroffensive um zukünftige politische
Lösungen des Konfliktes bemüht war, ist heute vor allem damit
beschäftigt, einen sogenannten ‚Waffenstillstand' zu erreichen und -
dringender noch - die Belagerung der Geburtskirche und des Sitzes
Arafats zu beenden. Reflektiert man über die Geschehnisse der
letzten Wochen in Palästina insgesamt und in Bethlehem speziell, so
wird einem klar: Alles, was hier geschieht, hat kaum mit
Terrorbekämpfung zu tun, sondern vielmehr mit der systematischen
Zerstörung Palästinas als Gesellschaft. Die Regierung Scharons nimmt
die internationale "Mode" der Bekämpfung des Terrors als Vorwand, um
sicherzustellen, dass Palästina für Jahrzehnte nicht in der Lage
sein wird, ein funktionierenden Staat zu werden.
1. Die Infrastruktur wird zerstört: Während der letzten Jahre haben
sich viele Initiativen zusammengefunden, um die Stadt Bethlehem zu
restaurieren und für das Jahr 2000 vorzubereiten. Strassen wurden
neu gemacht, der Bereich der Altstadt gepflastert und zu einer
Fussgängerzone entwickelt. Wasser, Strom und Telefonleitungen wurden
neu verlegt. Millionen von Entwicklungshilfegeldern wurden in diese
Restaurierung investiert. Mehrere europäische Länder haben sich
daran beteiligt, die Geburtsstadt Jesu für das Jubiläumsjahr
vorzubereiten. Schaut man sich die Strassen Bethlehems jetzt nach
nur drei Wochen der israelische Militäroffensive an, so kommt es
einem vor, als wäre diese Stadt eine Ruinenstadt. Die Strassen
existieren kaum noch, Gehwege sind kaum zu erkennen, Verkehrszeichen
liegen zertrümmert auf dem Boden, Wasser-, Strom- und
Telefonleitungen liegen gekappt auf den Strassen, und die Liste kann
noch verlängert werden. Doch was hat die Infrastruktur einer Stadt
wie Bethlehem mit Terror zu tun?! Was haben Ampeln, Sanitätsanlagen,
Bäume, Denkmäler mit der Sicherheit des Staates Israels zu tun?!
Diese Frage müsste man der Regierung Scharons wohl stellen, ebenso
aber müsste man diese Frage den vielen Ländern stellen, die sich an
dieser Restaurierung beteiligt haben. Während der letzten Jahre
haben wir desöftern Einwände der Geldgeberstaaten bezüglich eines
unangemessenen Umgangs der PA (Palästinensischen Autonomiebehörde)
mit den Entwicklungshilfegeldern gehört, was verständlich ist. Denn
letztendlich müssen ja die Regierungen Verantwortung gegenüber den
Steuerzahlern tragen. Diese pragmatische Haltung hätte dazu führen
müssen, dass wohl dieselben Staaten jetzt auch kritisch ihre Stimmen
erheben, wenn das Militär binnen weniger Tage alles zertrümmert, was
an Hilfe geleistet wurde. Doch überraschenderweise wurde erst vor
ein paar Tagen in Norwegen ein Treffen der Geldgeberstaaten
organisiert, bei dem beschlossen wurde, dass die Europäer wohl
zusätzliche 300 Millionen US Dollar an die PA geben, um die Schäden
zu beheben, die bei dieser Militäraktion zugefügt wurden. Dies
geschieht in einer Zeit, in der die Regierung Scharons schon
offenlegt, dass der Einmarsch in die sogenannten "Autonomen" Zonen
auch in der Zukunft eine Option bleibt. In diesem Sinne kommen die
Entwicklungshilfegelder gerade recht, um die Städte für die nächste
Zerstörungsaktion vorzubereiten!
2. Fundamente einer zivilen Gesellschaft: Jahrzehnte unter Besatzung
ohne eigene politische Führung vor Ort führte dazu, dass sich in
Palästina im Gegensatz zu anderen arabischen Ländern die zivile
Gesellschaft stärker entwickelt hatte. In allen Städten sind
Nichtregierungsorganisationen entstanden, die sich Fragen der
Gesellschaft gewidmet haben. Bethlehem ist hierbei keine Ausnahme.
Die Stadt hat während der letzten 35 Jahre israelischer Besatzung
viele verschiedene Organisationen beheimatet, die in den
verschiedensten Bereichen gesellschaftlicher Arbeit tätig sind, so
beispielsweise im medizinischen Bereich, bei Bildungs- oder
Menschenrechtsfragen usw. Es waren Institutionen, die sich darum
bemüht haben, Menschen in diesem Land Hoffung inmitten all der
Hoffnungslosigkeit, die sich breit machte, zu geben. Doch was haben
diese Organisationen mit Terror zu tun? Die Frage müsste man ebenso
der Regierung Scharons stellen. Denn in den vergangenen Wochen hat
das Militär wohl kaum eine Institution ausgelassen, ohne sie mit
Panzergranaten und Maschinengewehren anzugreifen. Das neu Gebäude
der Universität Bethlehems wurde bombardiert, das Internationale
Begegnungszentrum Bethlehems ist ebenso beschossen und bombardiert
worden, die Krankenhäuser sind auch nicht verschont worden, Schulen
teilen den gleichen Schicksal. Damit wird dafür gesorgt, dass
Palästina für die nächsten Jahre zu einem Entwicklungsland wird, das
weiterhin auf die Hilfe der Internationalen Gemeinschaft angewiesen
ist, um wieder auf die Beine zu kommen. Zugleich hat die Regierung
Scharon dafür gesorgt, dass alle PA-Institutionen dem Boden gleich
gemacht wurden. Das Bildungsministerium, das Innenministerium, das
Wirtschaftsministerium und vieles mehr. Jetzt heisst es nur noch:
Chaos! Will ein Schüler eine Kopie seiner Abiturprüfung, so liegen
keine Dokumente vor; will jemand eine Geburtsurkunde, so gibt es
keine Unterlagen mehr. Damit wird dafür gesorgt, dass die PA, auch
wenn sie das Ganze hier überstehen sollte, über Jahre damit
beschäftigt sein wird, ihre Teile wieder zusammenzuführen.
Gleichzeitig wird verkündet, dass die Israelische Zivile
Administration, die vor Oslo das gesamte Leben in Palästina in der
Hand hatte, wieder belebt wird. Viele sehen darin eine grosse
Gefahr. Aber blickt man hinter die Fassade, so wird einem klar, dass
die Situation sich nur vordergründig verändert, aber nicht im Kern.
Das Gesicht der Besatzung wird in dem Moment wieder sichtbar, in dem
die Schminke verschwindet. Ja, in den vergangenen Jahren hatte Isräl
alle Entscheidungen über Palästina in der Hand, allerdings hinter
den Kulissen. Jetzt heisst es: Maske ab! Daher gilt meine Sorge
nicht der Zukunft der PA, sondern vielmehr der Zukunft der zivilen
Gesellschaft. Die Geschichte hat uns gelehrt, dass wir ohne die PA
unser Leben organisieren können, doch nicht ohne die vielen
engagierten "Grass-Roots"-Organisationen.
3. Die Würde des Menschen: In den vergangenen Wochen hat die
Regierung Scharons alles unternommen, um den Menschen hier vor Ort
alles wegzunehmen inklusive ihrer menschlichen Würde. Menschen sind
seit jetzt bald mehr als einen Monat ohne Arbeit, ohne jene
Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Sie sind zu
Gefangenen ihrer eignen vier Wände geworden, oft ohne Strom, Wasser
und Telefonleitungen. Immer mehr Menschen kämpfen nun um das
einfache Überleben. Immer mehr Menschen werden soweit gebracht,
Schlange zu stehen, um sich die notwendigen Lebensmitteln zu
besorgen, und dabei begeben sie sich jedes Mal in eine
lebensgefährliche Situation. Menschen werden täglich an den Punkt
gebracht, sich selbst und ihr Leben aufzugeben. Was haben Brot und
Würde mit der Sicherheit des Staates Israel zu tun? Diese Frage
müsste der Regierung Scharons gestellt werden ebenso wie den vielen
Internationalen Organisationen und Ländern, die sich auch daran
beteiligen. Wenn ich manchmal aus dem Fenster blicke und sehe, wie
Menschen Schlange stehen, um sich ein wenig Mehl, Zucker und Reis zu
besorgen, dann blutet mir das Herz und ich sehe Afghanistan vor mir.
Ja, Afghanistan, wo die Amerikaner den Flüchtlingen im gleichen Zug
Bomben und Essen gaben. Bomben, weil sie sich in dieser Fremde
fürchten, und Essen, weil sie sich damit ein gutes Gewissen kaufen
wollen. Wirft man nur Bomben, dann werden viele nicht gut schlafen
können und von Albträumen verfolgt werden. Das Essen sorgt für einen
ruhigen albtraumfreien Schlaf! Die Internationale Gemeinschaft
unterstützt einen Staat Palästina. Das ist keine grosse Leistung,
wenn sogar Scharon dies unterstützt, wenngleich nur auf 50 Prozent
der geographischen Fläche der Westbank und des Gazastreifens. Doch
sie wollen einen Staat haben, in dem Menschen sich daran gewöhnt
haben, ihre Hand nach dem täglichen Brot auszustrecken. Menschen,
die sich mit der Rolle des Untertans zufrieden geben und somit gute
Kandidaten für politische Manipulationen sind.
Wer durch die Strassen Bethlehems geht spürt eine starke Ambivalenz
der Lage. Zum einen blutet einem das Herz bei der Betrachtung der
Zerstörung, zum anderen spürt man die Widerstandskraft der Menschen,
die trotz allem und allem zum Trotz sich noch auf die Strassen
wagen. Scharon hat vielleicht alles Materielle zerstört. Das ist
eigentlich auch keine grosse Leistung für den bestbewaffneten Staat
in der Region. Doch er kann und wird nie den Willen der Menschen für
Freiheit und Gerechtigkeit zerstören können. Das lehrt uns die
Geschichte. Übrigens auch die jüdische Geschichte!
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Erich Fried schrieb vor
einigen Jahren "Die Gewalt herrscht dort wo der Staat sagt, es darf keine
andere Gewalt geben außer meine".
Eine bessere Zusammenfassung der
internationalen Außenpolitik zurzeit ist kaum noch möglich. Im 21.
Jahrhundert scheint die Gewalt des Staates die einzige
Interventionsmöglichkeit geblieben zu sein. Krieg scheint das einzig
gebliebene politische Instrument für die Mächtigen zu sein. Wir steuern
nicht nur auf einen Krieg zu! Nein, es ist noch fataler, wir steuern auf
einen sogenannten Präventivkrieg zu. Ein Krieg, der eine Gefahr abwenden
soll, von der viele gar nicht überzeugt sind, und dabei eine noch größere
Gefahr für alle mit sich bringt, von der auf der andererseits viel mehr
überzeugt sind.
Welche Folgen
wird der Krieg für die betroffenen Menschen haben? Welche Dimension wird
dieser Krieg wohl haben und für wen? Was kommt nach dem Krieg? Welche
Mittel sind noch möglich nach einem Präventivkrieg? Wie viele
Präventivkriege stehen uns in der Zukunft noch bevor? Als Palästinenserin,
die unter Besatzung geboren und groß geworden ist, die seit 34 Jahren
unter dem Joch der Gewalt lebt, kann ich es nicht lassen einen Vergleich
zu machen, nicht so sehr weil die Situation zu vergleichen ist, als
vielmehr um den Blick zu erweitern. Deshalb frage ich:
Was haben
Menschen im Irak und Palästina gemeinsam:
-
Ein Land, das
durch Krieg und Gewalt gekennzeichnet ist.
-
Menschen, die
täglich ihr Leben wegen der Politik im Land verlieren.
-
Über drei
Jahrzehnte Erfahrungen des Grauens und des Todes.
-
Ein Konflikt,
der immer wieder für politische wirtschaftliche Interessen
instrumentalisiert wird.
Was haben sie
nicht gemeinsam:
-
Was als erstes
auf der Hand liegt sind natürlich die Ölfelder und deren politischer
wirtschaftlicher Stellungswert.
-
Für Irak sind
die UNO Resolutionen verpflichtend, für Palästina Israel wohl nicht.
-
Im Falle Irak
ist ein Präventivkrieg denkbar, während im Falle Palästina ein Ende der
Besatzung und des Krieges undenkbar sind.
-
Vermutungen
sind in Irak Grund genug für einen Internationalen Einsatz, während in
Palästina Tatsachen für einen Einsatz nicht kräftig genug sind.
Wir sind
heute hier versammelt, gemeinsam mit vielen anderen Menschen weltweit um
unser klares NEIN für den Krieg auszusprechen. Es ist nicht wichtig,
welches Gewicht unser Hilfeschrei haben kann und wird. Viel wichtiger
scheint mir zu sein, in einer Zeit des Wahnsinns und politischer Zynismus,
eine Zivilcourage aufzubringen, NEIN zu sagen. Nicht mit uns und nicht in
unseren Namen! Wir stehen heute hier um ein Zeichen dafür zu setzen, dass
Frieden weit mehr Courage braucht als Krieg, dass Menschen viel mehr
zählen als Öl, dass ziviler Ungehorsam in Zeiten wie unsere eine Pflicht
und Verpflichtung der Geschichte, der Gegenwart und der Zukunft ist.
Wenn Krieg die einfachste Tradition der Mächtigen Politik zu machen, dann
ist unsere Aufgabe eine Tradition des Friedens zu kultivieren.
Quelle |
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