Gazas schockierende Verwüstung
Harry Shannon, Hamilton Spectator 14.August 2008
Als kanadischer Jude, der die
besetzten Gebiete besucht, schäme ich mich über das, was ich sah. Ich
hatte erwartet, dass die Lage in Gaza schlecht sein wird, aber als ich
im Juli dort war, war ich über die Verwüstung doch sehr geschockt.
Im letzten Monat kamen wir über den
Erez-Übergang – ein modernes Gebäude, das an einen Flughafenterminal
erinnert – in den Gazastreifen. Nachdem wir von der israelischen
Grenzkontrolle ausgefragt worden waren, verließen wir das Gebäude und
mussten 1km laufen, um zu einem Fahrzeug zu kommen, das uns mitnahm.
Es war, als ob wir auf einem
anderen Planeten gelandet waren. Entlang der sandigen Piste stehen die
in die Luft gesprengten Reste von Gazas früherer Industriezone :
Schuttberge Hunderte Meter entlang der Straße.
Selbst auf der Hauptstraße durch
Gaza muss man Slalom um die großen Löcher fahren. Die Luft riecht nach
verbranntem Öl und verdorbenen Lebensmitteln und Auspuffgasen ( Die
Wagen fahren mit Kochöl anstelle von Benzin). Es sind nicht viele Wagen
auf der Straße. Eselskarren sind üblich.
Trotz der 35 Grad schalten die
Fahrer keine Klimaanlage an, um so Brennstoff zu sparen.
Überall herrscht der Gestank von
Abfall. Das Fehlen von Müllbeseitigungsanlagen bedeutet, dass vieles
davon einfach ungereinigt ins Mittelmeer abfließt.
Wir fuhren erst zum
Kinderkrankenhaus an den Rand von Gaza-Stadt. Der Krankenhaus- direktor
und die Ärzte beschrieben die Lage. Von 100 Betten waren 40 von
Kindern mit infektiöser Meningitis belegt, einer äußert schweren
Krankheit.
Es herrscht großer Mangel an den
grundlegenden Medikamenten und an medizinischem Material, selbst so
einfache Dinge wie Alkohol-Tupfer fehlen. Das Krankenhaus hat drei
Ventilatoren, doch nur einer funktioniert. Israel lässt keine
Ersatzteile hinein. Die arbeitende Maschine ist nur für „hoffnungslose
Fälle“. ..
Es gibt viele Fälle von
Unterernährung – z.B. Kinder , die fast ein Jahr alt sind, wiegen nur
3kg. Ihre Eltern können sich keine spezielle Zusatzernährung leisten.
Auf Grund der fehlenden Ausrüstung
und des qualifizierenden Personals gibt es keine Bestrahlungstherapie
und nur begrenzte Chemotherapie in Gaza.
Besondere medizinische Behandlung
kann man nur in Israel erhalten. Die Ärzte für Menschenrechte (PHR),
Israel, berichten, dass trotz der Feuerpause in den letzten Wochen
medizinischen Notfällen die Einreise nach Israel verboten wurde, wo
ihnen lebensrettende Behandlung hätte gegeben werden können. PHR hat
viele Fälle dokumentiert, wo die Leute starben, weil sie nicht behandelt
werden konnten. ( inzwischen über 225 ER)
Tatsächlich ist die Anzahl der
Patienten, die den Gazastreifen für eine medizinische Behandlung nicht
verlassen durften, seit letztem Jahr gestiegen.
PHR wird bald einen Bericht über
„medizinische Erpressung“ herausgeben: einige kranke Palästinenser sind
am Erez-Übergang erpresst worden: sie dürfen nur unter der Bedingung,
dass sie Informanten und Kollaborateure werden, den Gazastreifen für
medizinische Behandlung verlassen.
Nachdem wir das Krankenhaus
verlassen hatten, fuhren wir in den Süden des Gazastreifens. Wir hielten
am Rafa-Grenzübergang nach Ägypten. Er war geschlossen - wie die meiste
Zeit.
Eine Menge Leute standen dort und
hofften gegen die Hoffnung, dass man ihnen erlauben würde, die Grenze zu
passieren. Doch Ägypten steht unter Druck von Israel und den USA, die
Grenze nicht zu öffnen. Außerdem wollen sie nicht, dass eine große
Anzahl von Flüchtlingen eindringt.
Wir fuhren in die Stadt Rafah, die
vom israelischen Militär bombardiert worden war. Viele Gebäude waren
vollkommen zerstört oder schwer beschädigt worden. In kaum einer Straße
gibt es Gebäude, die nicht Schäden aufweisen. Improvisierte Hütten aus
Wellblech und aus Säcken sind jetzt Wohnstätten für die, die ihre
Wohnungen verloren haben.
Wir kehrten über die Küstenstraße
zurück. Die Schönheit mit dem Blick aufs Meer stand in scharfem Kontrast
zu dem, was wir gesehen hatten.
Nachdem wir das
Shati-Flüchtlingslager hinter uns gelassen hatten, kamen wir an modernen
Hotels vorbei, die vergeblich auf Kunden warten. Die von Israels
Grenzkontrollen schwer betroffene Wirtschaft im Gazastreifen liegt
danieder.
Meine Schwester und ihr Mann sind
orthodoxe Juden, die in der Nähe Tel Avivs leben. Sie
sind wütend über Israels Verhalten,
besonders was die Einschränkungen gegenüber Kranken betrifft, die den
Gazastreifen verlassen müssten. Mein Schwager, ein früherer Vorsitzender
der Allgemeinmedizin an der Universität Tel Aviv und ein Spezialist in
medizinischer Ethik hat sich öffentlich darüber beklagt.
Als Jude schäme ich mich und bin
entrüstet über das, was hier geschieht. Israel braucht Sicherheit – aber
was hier geschieht, geht weit über Sicherheitsbelange hinaus.
Israels Aktionen sind
Kollektivstrafen, die nach dem Völkerrecht verboten sind.
Ich schäme mich, dass die
Harper-Regierung der bedingungslosen Unterstützung Israels gegen die
Palästinenser nachgegeben hat. Die augenblickliche Politik ist unerhört,
wie jeder, der den Gazastreifen besucht, sehr wohl sehen kann.
Harry Shannon ist Professor für
klinische Epidemiologie und Biostatistik an der MxMaster-Universität und
ein Mitglied der „Unabhängigen jüdischen Stimme“. Er lebt in Dundas.
(dt. Ellen Rohlfs)
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