Gaza zerstören
Sara
Roy
http://electronicintifada.net/v2/article10636.shtml
9.7.2009
Das Treffen von US-Präsident Barack
Obama und dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin
Netanyahu vor kurzer Zeit ließ Spekulationen über die
zukünftigen Beziehungen zwischen Amerika und Israel aufkommen
und eine potentiell veränderte US-Politik beim
israelisch-palästinensischen Konflikt. Analysten der Rechten und
der Linken kommentieren eine neue schärfere amerikanische
Politik, die von härteren US-Forderungen gegenüber Israel
gekennzeichnet sein wird. Doch unterhalb der diplomatischen
Choreographie liegt eine qualvolle Realität, die nur kurze
Kommentare von Obama erhält und Stillschweigen von Netanyahu:
die anhaltende Zerstörung der Bevölkerung des Gazastreifens.
Diese Bevölkerung ist ein Beispiel
einer Gesellschaft, die absichtlich in einen Zustand
erbärmlichen Elends gebracht wurde. Gazas einst produktive
Bevölkerung wurde in Arme verwandelt, die auf Hilfe angewiesen
ist. Dieser Kontext ist unleugbar der eines Massenleidens, das
größtenteils von Israel geschaffen wurde - aber unter aktiver
Komplizenschaft der internationalen Gemeinschaft, besonders der
USA und der EU und der Palästinensischen Behörde in der
Westbank.
Gazas Abhängigkeit fing lange vor
Israels letztem Krieg gegen den Gazastreifen an. Die israelische
Besatzung – inzwischen von der internationalen Gemeinschaft
weitestgehend vergessen, wenn nicht gar abgestritten – hat Gazas
Wirtschaft und die Bevölkerung, vor allem seit 2006 vernichtet.
Auch wenn die wirtschaftlichen Restriktionen tatsächlich schon
vor Hamas’ Wahlsieg im Januar 2006 zunahmen, so haben die
verschärften Sanktionen und die Belagerung - von Israel und der
internationalen Gemeinschaft anschließend auferlegt - und ab
Juni 2007, als Hamas die Kontrolle über den Gazastreifen
übernahm, noch einmal intensiviert und die lokale Wirtschaft
zerstört. Wenn es ein spezielles Thema unter den vielen
Palästinensern, Israelis und Internationalen gab, die ich in den
letzten drei Jahren interviewte, so war es die Angst vor einer
schwer geschädigten Gesellschaft und Wirtschaft, die so groß
ist, dass Milliarden von Dollar und Generationen nötig sind, um
mit diesen Problemen fertig zu werden – eine Angst und
Befürchtung, die nun Realität wurde.
Nach Israels Dezemberangriff sind
Gazas sowieso schon schwer geschädigte Lebensbedingungen
tatsächlich unerträglich geworden. Der Lebensunterhalt, die
Wohnhäuser und die allgemeine Infrastruktur sind in einem Ausmaß
beschädigt, ja zerstört worden, dass sogar die israelische Armee
zugab, es sei nicht zu rechtfertigen gewesen. Im Gazastreifen
von heute gibt es keinen privaten Sektor und keine Industrie
mehr. 80% von Gazas landwirtschaftlicher Ernte wurde zerstört
und Israel schießt weiter scharf auf Bauern, die versuchen, auf
ihren Felder in der Nähe der schwer bewachten Grenze zu
arbeiten. Der größte Teil produktiver Aktivitäten sind
vernichtet worden.
Ein machtvoller Ausdruck von Gazas
wirtschaftlichem Ende – und der unbeugsame Wille der Gazaer,
sich und ihre Familien selbst zu versorgen – ist die boomende
Tunnelwirtschaft, die sich schon vor langem entwickelte als
Reaktion auf die Belagerung. Tausende von Palästinensern sind
jetzt damit beschäftigt, Tunnel nach Ägypten zu graben. Von
etwa 1000 Tunnel wird berichtet, auch wenn nicht alle
funktionieren. Nach lokalen Ökonomen besteht die wirtschaftliche
Tätigkeit in Gaza, die einmal (zusammen mit der Westbank) auf
einer niedrigen mittleren Einkommenswirtschaft beruhte – zu 90%
aus Schmuggel.
Heute sind 96% der 1,4 Millionen
Menschen des Gazastreifens von humanitärer Hilfe von
Grundnahrungsmitteln abhängig. Nach dem Welternährungsprogramm
benötigt der Gazastreifen ein Minimum an 400 LKW-Ladungen
täglich, nur um die Grundbedürfnisse der Bevölkerung zu
decken. Doch trotz einer Entscheidung des israelischen Kabinetts
am 22. März, alle Restriktionen auf Nahrungsmittel aufzuheben,
wurden nur 653 LKWs mit Lebensmitteln und anderem Nötigen
während der Woche um den 10. Mai durchgelassen, das sind
etwa 23 % der erforderlichen Menge.
Israel erlaubt nur, dass 30-40
Waren die Grenze überschreiten, anstelle von 4000 Produkten, die
vor Juni 2006 geliefert wurden. Nach der israelischen
Journalistin Amira Hass wurde der Transport vieler Bedarfsgüter
abgelehnt: Baumaterial, (einschließlich Holz für Fenster und
Türen) elektrische Apparate wie Kühlschränke und Waschmaschinen,
Ersatzteile für Autos und Maschinen, Stoffe und Faden, Nadeln,
Kerzen, Streichhölzer, Matratzen, Bettücher, Decken, Bestecke,
Geschirr, Tassen, Gläser, Musikinstrumente, Bücher, Tee, Kaffee,
Würste, Grieß, Schokolade, Sesam, Nüsse, Milchprodukte in großen
Packungen, die meisten Backprodukte, Birnen für Lampen,
Bleistifte, Kleidung und Schuhe.
Nach diesen Beschränkungen unter
noch vielen anderen – einschließlich des internen Chaos in der
palästinensischen Führung – fragt man sich, wie der
Wiederaufbau möglich sein soll, wovon Obama redete. Es ist keine
Frage, dass den Menschen sofort geholfen werden muss. Programme,
um das Leiden zu lindern und so etwas wie Normalität wieder
herzustellen, gehen weiter, aber nur in dem Maß, das von den
extremen Einschränkungen bei der Warenlieferung abhängt. Welchen
Sinn hat es, im Zusammenhang mit solch repressiver Unterdrückung
und verschärften Restriktionen Gaza wieder aufzubauen? Wie ist
es unter solchen Bedingungen möglich, ein Volk zu ermächtigen
und nachhaltige und stabile Institutionen aufzubauen, die in der
Lage sind, erwartete externe Schocks zu überstehen Ohne
unmittelbares Ende von Israels Blockade und der Wiederaufnahme
von Handel und der freien Bewegung der Leute außerhalb des
Gefängnisses, das Gaza lange gewesen ist, wird die
augenblickliche Krise nur weiter massiv und noch akuter wachsen.
Wenn nicht die US-Regierung bereit ist, wirklichen Druck auf
Israel auszuüben, um die Forderungen (Siedlungsstop) zu
erfüllen, wird sich wenig verändern. Es ist nicht überraschend,
dass trotz internationaler Versprechen von 5,2 Milliarden Dollar
für Gazas Wiederaufbau, die Palästinenser jetzt Lehmhütten
bauen.
Vor kurzem sprach ich mit Freunden
in Gaza, und das Gespräch war sehr beunruhigend. Meine Freunde
sprachen von einer tief empfundenen Abwesenheit von
irgendwelchem Schutz – persönlich, kommunal oder institutionell.
In der Gesellschaft gibt es wenig Rechtmäßigkeit und einen
schwindenden Konsens gegenüber Regeln …Trauma und Trauer lasten
auf allem, trotz Ausdrücken von Unverwüstlichkeit. Das Gefühl
von Verlassenheit unter den Leuten scheint vollkommen zu sein
…Der verblüffendste Kommentar war: „es ist nicht länger die
Besatzung oder gar der Krieg, der uns vernichtet, sondern dass
uns unsere eigene Bedeutungslosigkeit deutlich wird.“
Was kann von einem zunehmend ärmer
werdenden, kranken, zu dicht bevölkerten und wütenden Gaza neben
Israel kommen? Gazas schreckliche Ungerechtigkeit bedroht nicht
nur die israelische und regionale Sicherheit, es untergräbt auch
Amerikas Glaubwürdigkeit und verscherzt unsern Anspruch auf
demokratische Praxis und Rechtsstaatlichkeit.
Wenn Palästinensern fortgesetzt das
verweigert wird, was wir für uns wünschen: ein gewöhnliches
Leben, Würde, Lebensunterhalt, Sicherheit und einen Ort, an dem
sie ihre Kinder groß ziehen können – und gezwungen werden, noch
einmal die Zerstörung ihrer Familien zu erleben, dann wird die
unvermeidbare Folge die sein, dass die Gewalt in allen
Fraktionen, alten und neuen, noch größer und noch extremer sein
wird. Was sich bedrohlich abzeichnet, ist nicht weniger als der
Verlust einer ganzen Generation von Palästinensern. Und wenn
dies geschieht – vielleicht ist es schon geschehen – dann werden
wir die Folgen tragen.
(dt. und geringfügig gekürzt: Ellen
Rohlfs)
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