Der Krieg gegen Kinder
John Pilger, 15.6.06 (Information Clearing House)
Arthur Miller schrieb: “Nur wenige von
uns können den Glauben aufgeben, dass die Gesellschaft
irgendwie einen Sinn hat. Der Gedanke, dass der Staat
seinen Verstand verloren hat und dabei ist, so viele
unschuldige Menschen zu strafen, ist unerträglich. Also
muss der Beweis dafür intern geleugnet werden.“
Millers Wahrheit wurde am 9. Juni im Fernsehen flüchtige
Realität, nachdem israelische Kriegsschiffe auf
Familien, die am Strand von Gaza picknickten,
geschossen und 7 Menschen getötet hatten, einschließlich
drei Kindern und drei Generationen. Dies stellt – das
Problem der Palästinenser betreffend - schließlich eine
Lösung (final solution) dar, die mit der USA und Israel
abgestimmt ist. Während die Israelis Granaten auf
palästinensische Picknicker und Häuser in Gaza und in
der Westbank abschießen, lassen beide Regierungen sie
außerdem aushungern. Die Opfer werden vor allem Kinder
sein.
Am
23. Mai wurde vom US-Repräsentantenhaus mit 361 zu 37
Stimmen die Sperrung der Hilfsgelder für NGOs
genehmigt, die das Rettungsseil für das besetzte
Palästina darstellen. Israel hält palästinensische
Steuern zurück, die sich auf 60Millionen $ im Monat
belaufen.
Solch eine kollektive Strafe, die nach den Genfer
Konventionen als Verbrechen gegen die Menschheit
betrachtet wird, erinnert an die Strangulierung des
Warschauer Gettos durch die Nazis und die amerikanische
Belagerung des Irak in den 90er Jahren. Wenn die Täter
ihren Verstand verloren haben, wie Miller denken lässt,
scheinen sie ihr Barbarei zu verstehen und ihren
Zynismus zu entfalten, wie z.B. Dov Weißglas mit der
„Idee, die Palästinenser auf Diät zu setzen .“ Er ist
Berater des israelischen Ministerpräsidenten, Ehud
Olmert.
Dies
ist der Preis, den die Palästinenser für ihre
demokratischen Wahlen im Januar zahlen müssen. Die
Mehrheit wählte die „falsche“ Partei, die Hamas, die
die USA und Israel als Terroristen beschreiben - im
Sinne von „ ein Esel schimpft den andern einen Esel“ .
Doch Terrorismus ist nicht der Grund für die
Aushungerung der Palästinenser, dessen
Ministerpräsident Ismail Haniyeh bestätigt hat, dass
Hamas sich verpflichtet, den jüdischen Staat
anzuerkennen, wenn Israel sich an das Völkerrecht hält
und die Grenzen von 1967 respektiert. Israel verweigert
dies, weil es - wie die im Bau befindliche
Apartheidmauer deutlich macht – andere Absichten hegt:
immer mehr palästinensisches Land zu übernehmen und
ganze Orte ja schließlich auch Jerusalem zu umzingeln.
Wunden, die von Scharfschützen verursacht wurden
Der
Grund, warum Israel Hamas fürchtet ist der, dass Hamas
wahrscheinlich kein vertrauensvoller Kollaborateur sein
wird, der sein eigenes Volk im Auftrag Israels
unterwirft. Tatsächlich war die Stimme der Wähler für
Hamas eine Stimme für den Frieden. Die Palästinenser
hatten die Nase voll vom Versagen und der Korruption der
Arafat –Ära. Nach dem früheren US-Präsidenten Jimmy
Carter, dessen Carter-Zentrum den Hamas-Wahlsieg
beglaubigte, zeigten „die Meinungsumfragen, dass 80% der
Palästinenser ein Friedensabkommen mit Israel wünschen.“
Es
ist schon ironisch, wenn man den Aufstieg der Hamas
betrachtet, der dank geheimer Unterstützung Israels
zustande kam, da dieses mit den USA und den Britten
wollte, dass Islamisten den säkularen Arabismus und
dessen „moderate“ Träume von Freiheit unterminieren.
Hamas weigerte sich, dieses Macchiavellsche Spiel
mitzuspielen und hielt trotz der vielen israelischen
Angriffe 18 Monate lang seine Feuerpause ein. Das Ziel
des israelischen Angriffs auf den Strand von Gaza war
offensichtlich die Sabotage der Feuerpause. Das ist eine
uralte Taktik.
Nun
findet Staatsterror in der Art einer mittelalterlichen
Belagerung statt und trifft die Schwächsten. Für die
Palästinenser ist ein Krieg gegen ihre Kinder kaum etwas
Neues. Eine 2004 veröffentlichte Feldstudie in einer
britisch medizinischen Zeitschrift berichtet, dass in
den letzten vier Jahren „Zwei Drittel der (von
Israelis) getöteten 621 Kinder - an Checkpoints, auf dem
Weg zur Schule oder in ihren Häusern - durch kleine
Waffen starben, die zur Hälfte auf den Kopf, den Hals
und die Brust gerichtet waren – es sind Wunden von
Scharfschützen. Ein Viertel der palästinensischen Kinder
unter fünf sind akut oder chronisch unterernährt. Die
israelische Mauer wird 97
(Primary-)Gesundheitskliniken und 11 Krankenhäuser von
der Bevölkerung trennen, der sie dienen sollten.“
Die
Studie beschreibt „einen Mann in einem jetzt
eingemauerten Dorf nahe Qalqilia, als er sich mit seiner
schwer kranken Tochter im Arm einem Tor näherte und die
Soldaten darum bat, ihn passieren zu lassen, damit er
sie ins Krankenhaus bringen könne. Die Soldaten
verweigerten dies.
Gaza, das nun wie ein Gefängnis abgesperrt ist und vom
Lärm von die Schallgeschwindigkeit durchbrechender
Knallerei durch die israelische Luftwaffe terrorisiert
wird, hat eine Bevölkerung, deren Hälfte unter 15 Jahre
alt ist. Dr. Khalid Dahlan, ein Psychiater, der einer
Kinderklinik vorsteht, erzählte mir: „Nach der
Statistik, die für mich unerträglich ist, sind 99,4 %
der Kinder, mit denen wir es zu tun haben, traumatisiert
...99,2 % erlebten, wie ihr Haus bombardiert wurde, 97,5
% waren Tränengas ausgesetzt; 96,6 % waren Zeugen als
geschossen wurde; ein Drittel sah, wie
Familienmitglieder oder Nachbarn verletzt oder getötet
wurden.“
Diese Kinder leiden unvermindert an Alpträumen und
„Nachtterror“, und sie müssen sich weiterhin mit eben
diesen Situationen auseinandersetzen. Einerseits träumen
sie davon, Doktor und Krankenschwester zu werden, „damit
sie andern helfen können“; andrerseits wird dieser
Wunsch von einer apokalyptischen Vision überholt, dass
sie die nächste Generation der Selbstmordattentäter
seien. Sie machen konstant nach israelischen Angriffen
diese Erfahrung.
Für
einige Jungen sind nicht mehr Fußballspieler die Helden,
sondern eine Verbindung des palästinensischem „Märtyrer“
mit dem Feind, „weil israelische Soldaten stärker sind
und Apachen-Kanonenboote haben.“
Dass
diese Kinder nun darüber hinaus noch weiter gestraft
werden, mag menschlichen Verstand übersteigen, aber da
liegt eine gewisse Logik drin. Jahrelang haben
Palästinenser es vermieden, in den Abgrund eines
Bürgerkrieges zu fallen, wohl wissend, dass es genau
dies ist, was Israel wünscht. Indem sie nun
ihre gewählte Regierung zerstören, versuchen sie, eine
parallele Regierung um den palästinensischen Präsidenten
Mahmoud Abbas aufzubauen ...die Folge: eine
anarchistische Gesellschaft ... beherrscht von
verzweifelten Milizgruppen, Banden, religiösen
Ideologien, zerbrochen in ethnische und religiöse Clans
und Kollaborateure. Schauen wir auf den Irak von heute:
das ist es, was Sharon für uns auf Lager hatte,“ schrieb
der Oxforder Akademiker und Palästinenser Karma Nabulsi.
Der
Kampf in Palästina ist ein amerikanischer Krieg, der von
Amerikas schwerbewaffneter Militärbasis, Israel, aus
geführt wird. Wir im Westen sollten über den
israelisch-palästinensischen „Konflikt“ nicht in dieser
Weise denken, so wie wir über die Israelis als Opfer,
aber nicht als illegale und brutale Besatzer denken
sollten. ...doch ohne F-16-Bomber und die
Apachen-Hubschrauber und die Milliarden Dollars
amerikanischer Steuerzahler, hätte Israel längst mit den
Palästinensern Frieden gemacht. Seit dem 2. Weltkrieg
hat die USA Israel 140 Milliarden $ gegeben, den größten
Teil für die militärische Ausrüstung. Nach dem
Kongress-Forschungsdienst waren in demselben
„Hilfsbudget“ 28 Millionen $ „Hilfe für palästinensische
Kinder eingeschlossen, die unter dieser
Konfliktsituation leiden“ , um ihnen mit „grundlegender
erster Hilfe“ beizustehen. Diese Hilfe wurde jetzt auch
gestrichen.
Karma Nabulsis Vergleich mit dem Irak ist treffend, denn
dieselbe „Politik“ wird dort angewandt. Die Aufbringung
von Zarqawi war ein wunderbarer Medien-Event. Die
Philosophin Hanna Arendt nannte dies eine „Aktion als
Propaganda“ und hat wenig mit der Realität zu tun. Die
Amerikaner... haben ihren Dämon in die Luft gesprengt.
Die Wahrheit ist, das Zarqawi größtenteils ihre
Schöpfung war. Seine offensichtliche Tötung diente einem
wichtigen Propagandazweck, der uns im Westen vom
amerikanischen Ziel, den Irak wie Palästina in eine
ohnmächtige Gesellschaft von ethnischen und religiösen
Clans/Stämmen umzuwandeln, ablenken soll.
Todesschwadronen, die von Veteranen der CIA in
Zentral-Amerika ausgebildet und trainiert werden, sind
dafür wichtig. Der Mord an Zarqawi und die Mythen über
seine Bedeutung lenken auch von den Massakern der
US-Soldaten ab, wie das in Haditha. Sogar der
Marionetten-Präsident Al-Maliki beklagt das mörderische
Verhalten der US-Truppen als tägliches Geschehen ...
Dies
ist als „Befriedung“ bekannt. Die Asymmetrie eines
befriedeten Irak und eines befriedeten Palästina ist
klar. Wie in Palästina geht der Krieg im Irak gegen
Zivilisten, meist gegen Kinder. Nach UNICEF war der Irak
einmal das Land mit dem höchsten Indikator für das
Wohlbefinden der Kinder. Heute leidet ein Viertel aller
Kinder zwischen ½ und 5 Jahren an akuter oder
chronischer Unterernährung, schlimmer als in der Zeit
der Sanktionen. Armut und Krankheit nehmen mit jedem Tag
der Besatzung zu.
Im
Britisch besetzten Basra ist „die Kindersterblichkeit um
30 % angewachsen, verglichen mit der Saddam Hussein-Ära“
( nach Saving Children from War, einer EU
–Hilfsagentur).
Sie
sterben, weil die Krankenhäuser keine Ventilatoren haben
und das Wasser verschmutzt ist .... Die Kinder werden
Opfer von nicht explodierten britischen und US-
Clusterbomben. Sie spielen in Gegenden, die von
abgereichertem Uran verseucht sind(und Krebs/Leukemie
verursacht). Im Gegensatz dazu bewegen sich brit.
Überwachungsteams dort nur mit vor Strahlung
schützenden speziellen Ganzkörper-Anzügen mit
Gesichtsmasken und Handschuhen. ...Das
Verteidigungsministerium nennt dies einen „vollen
biologischen Test.“
Hatte Arthur Müller recht? Wird dies alles intern
dementiert? Oder hören wir auch auf entferntere Stimmen?
Bei
meinem letzten Aufenthalt in Palästina wurde ich beim
Verlassen von Gaza mit einem Schauspiel
palästinensischer Flaggen von innerhalb des ummauerten
Gebietes belohnt. Kinder waren dafür verantwortlich.
Keiner hatte sie dazu aufgefordert. Sie machten
Fahnenstangen aus zusammengebundenen Stöcken, kletterten
auf eine Mauer und hielten die Fahnen ruhig zwischen
sich. Wohl im Glauben, dass sie der Welt erzählen
werden.
(Dieser Artikel erschien zuerst in New Statesman – seine
Website:
www.johnpilger.com)
(dt. Ellen Rohlfs)
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