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Newsletter 1/09 der Pax Christi
Friedensbewegung - AG Israel/Palästina.

 

 

Liebe LeserInnen!
Aus der Fülle der hereinkommenden Nachrichten und Artikel das wichtigste auszuwählen, ist sehr schwierig. Ich habe es versucht –  ich bin sicher, dass Du/Sie eine Menge Mängel erkennen und bei manchen Darstellungen ganz anderer Meinung sind. Die Arbeitsgruppe Israel/Palästina von Pax Christi will weder einseitig sein noch Schauermärchen verbreiten, aber Frieden ist nicht billiger zu haben, als wenn Wahrheiten, auch unglaubliche, auf den Tisch gelegt werden. Daher nehme ich die erst heute in meine Hände gekommene Beschreibung des Buches von Bettina Marx auf. Dass man mit den politischen Gegebenheiten anderswo anders umgehen kann, schildert Lydia Aysenberg von der Green Line im Norden der Westbank.    

Es ist uns ein Anliegen, dass man die „Weltwoche für Frieden in Palästina und Israel“ im Juni an möglichst vielen Stellen wahrnimmt. Daher – für manche „schon wieder“ – der Aufruf. In diesem Zusammenhang steht auch die Beschreibung von EAPPI (Ecumenical Accompaniment-Program for Palestine and Israel); wir suchen Wege, wie wir uns einklinken können.

 Shalom - Salaam Gerhilde Merz, Vorsitzende

Linz am 23. April 2009  

 

INHALT

1) Weltwoche 2009 für Frieden in Palästina und Israel

2) Das ökumenische Friedensbegleitprogramm (EAPPI)

3) „Gaza. Land ohne Hoffnung.“ Das neue Buch von Bettina Marx
  
Sensibel und furchterregend zum Zerbersten – Buchbeschreibung (Rupert Neudeck)

4) Warum der Waffenstillstand scheitern musste (Clemens Ronnefeld)

5) Religiöse Gruppen vereinnahmen die israelische Armee (Jonathan Cook)

6) Ein kleines rotes Licht (Uri Avnery)

7) Sprechende Hände  (Lydia Aysenberg)

 

 

Weltwoche 2009 für Frieden in Palästina und Israel, 4.-10.Juni 2009

Gemeinsame Aktion für einen gerechten Frieden, initiiert durch den Weltkirchenrat

***

 

Der Weltkirchenrat lädt Mitgliedskirchen und verwandte Organisationen ein, eine Woche der Anwaltschaft und Aktion für einen gerechten Frieden in Palästina und Israel mit zu tragen. Diejenigen, die die Hoffnung teilen, mögen sich an friedvollen Aktionen beteiligen, um ein gemeinsames internationales öffentliches Zeugnis abzulegen.

 

Wie man damit umgeht

 

Während der Weltwoche für Frieden in Palästina und Israel  (4.-10.Juni 2009) senden Kirchen in verschiedenen Ländern ein klares Signal an die Politik, an die interessierte Öffentlichkeit und ihre eigenen Pfarrgemeinden über den dringenden Bedarf nach einem Friedensabkommen, das die legitimen Rechte und die Zukunft beider Völker sicherstellt. TeilnehmerInnen mögen ihre Aktivitäten um die folgenden Themen platzieren:

 

1.      Mit den Kirchen im besetzten Land beten; dazu gibt es das „Jerusalemer Gebet“. Die Meditation „It’s Time for Palestine“, Elemente für den Gottesdienst deutsch. Diese Dinge können von der Homepage von Pax Christi (www.paxchristi.at) herunter geladen werden.  Eine ganze Liturgie (englisch) findet sich im Internet: www.worldweekforpeace.com. Die darin behandelten Bibelstellen sind: Jesaia 9; 1-4 … Psalm 5 …. 1. Petrusbrief 1; 3-7 …

       Evangelium Lukas 4; 16-21. Nach dieser Liturgie wird am 7. Juni in Jerusalem gefeiert.

 

2.    Information über Aktionen, die den Frieden fördern bez. behindern, wie z.B. die Sied-

       lungen in besetzten Gebieten; Pax Christi Ö wirbt besonders um Interesse für EAPPI

 

3.      Anwaltschaft: Briefe, Stellungnahmen, Unterschriftenaktionen etc. mit dem Zielpunkt

      „Friede mit Gerechtigkeit“

 

Warum

 

Wir rufen besonders zu mehr Gerechtigkeit für Palästina auf, damit beide Völker nach mehr als 60 Jahren in Frieden leben können. Seit mehr als 60 Jahren wird die Teilung des Territoriums zunehmend zum Albtraum. Die Vision von einem Land für zwei Völker ist seit der Besetzung von Ostjerusalem, dem Gazastreifen und der Westbank vor 40 Jahren zunichte gemacht worden.

Aber der Traum  einer Nation darf nicht auf Kosten der anderen erfüllt werden!

 

Die Botschaft dieser Woche lautet:

Es ist Zeit, dass Palästinenser und Israeli einen gerechten Frieden teilen.

Es ist Zeit für die Befreiung aus der Besatzung.

Es ist Zeit für gleiche Rechte.

Es ist Zeit, verwundete Seelen zu heilen.

 

Es ist Zeit für ...

 

 

Das ökumenische Friedensbegleitprogramm in Palästina und Israel (ÖFPI)

 

„EAPPI“ (Ecumenical Accompaniment Program for Palestine and Israel) ist  geläufiger als die deutsche Übersetzung. Weitere Informationen: Web:www.paxchristi.de; www.eappi.org/eappiweb.nsf/index-g.htm – Broschüre EMW : Weltmission heute Nr.61/2005 „Taube, Kreuz und Stacheldraht“

Das Programm nimmt  langjährige Erfahrungen des Ökum. Rates der Kirchen in der Arbeit mit Menschenrechten auf. Die Freiwilligen, die sich auf diesen ökumenischen Friedensdienst einlassen, müssen mindestens 25 Jahre alt sein und englisch sprechen können – und sie müssen vertraut sein mit der Konfliktgeschichte zwischen Israel und Palästina. Vor allem aber müssen sie sich auch in angespannter Situation ihrer begrenzten Rolle als Begleitende bewusst sein und stets gewaltfrei agieren.

Die bis zu zwölf Freiwilligen (die gleichzeitig Dienst tun) verteilen sich nach der Orientierungsphase auf Jerusalem, wo vor allem Kontakt zu israelischen NGO’s gesucht wird, auf Bethlehem und die umliegenden Gemeinden, auf Ramallah, Hebron, Jayyous mit Tulkarem und Janun. Einsätze in Gaza und Nablus wurden aus Sicherheitsgründen aufgegeben. Die Einsätze können sehr unterschiedlich sein und 3 bis 6 Monate dauern.

Der ÖRK hat mit Begleitprogrammen schon von der Arbeit in Südafrika Erfahrungen. Menschen beider Seiten der Krise waren und sind zu begleiten. Erschreckend für Beobachter aus der Ferne ist, dass die Situationen sich stark ähneln: Da wie dort eine Minderheit (als Besetzer), die einer Mehrheit ihre rechtmäßigen alltäglichen Lebensgrundlagen raubt, da wie dort Leiden auf beiden Seiten. Als das EAPPI-Programm entworfen wurde, war man sich klar, dass die Krise nicht nur die palästinensische, sondern auch die israelische Gesellschaft beeinträchtigen würde. Die Nachhaltigkeit der Einsätze sollte aber auch Vorurteile  in den Herkunftsländern gegenüber den in die Krise Involvierten  durch Vorträge und Erzählungen abbauen helfen.

 

Pax Christi Österreich nimmt diese Arbeit als ihr besonderes Anliegen auf. Um zur Durchführung zu gelangen, braucht es verschiedene Schritte: Information und entsprechende Zustimmung durch die Kirchen; diesbezüglich wurde von der Genfer Stelle ein Brief an die Kirchenleitungen verfasst und vielerorts diskutiert. Die Suche nach InteressentInnen und daher entsprechende Publikation in interessierten Kreisen – und die Suche nach den Mitteln, die für den Einsatz notwendig sind (für Reisekosten, Lebenshaltungskosten und Schulung ca. 5000 €). Bitte, geben Sie diese Information weiter bzw. greifen Sie auf  das untenstehende 

Angebot zurück.

 

EAPPI: Power Point Präsentation auf CD (deutsch) kann zum Selbstkostenpreis im Büro von Pax Christi OÖ (pax.christi@dioezese-linz.at) und Pax Christi Ö (office@paxchristi.at) erworben werden.

 

 

Gaza. Land ohne Hoffnung.“ Das neue Buch von Bettina Marx - Sensibel und Furcht-erregend zum Zerbersten

Zu einem Buch von Bettina Marx, das alle unsere deutschen Gemein-Vorstellung von Israel-Palästina vom Kopf auf die Füße der Tatsachen stellt

Von Rupert Neudeck

19.04.09

 

Das ist ein gewaltiges Buch, das nur beschreibt, das aus der Fülle eines engagierten Reporterlebens nur erzählt, was den Personen geschehen ist, die sie im Gaza Streifen erlebt hat. Sie hat einen Partner, den auch viele andere Journalisten hatten, den Taxifahrer Raed. Als die israelische Armee im November 2007 einmarschiert und Beit Hanoun fast dem Erdboden gleichmacht, ist auch Raed am Ende. Er sagt der Autorin: „Das, was ich gesehen habe, hat mich wirklich verändert. Vorher war ich dagegen, dass Zivilisten getötet werden. Egal, ob Juden oder Muslime, ich war dagegen“. Inzwischen sähe er das anders:  „Wenn ich sehe, dass ein vierjähriges Kind getötet wird, dass Frauen getötet werden, dann hasse ich sie und dann wünsche ich mir, dass auch Zivilisten leiden.“ Voller Entsetzen fügt er der Reporterin der ARD hinzu: „Mein zehnjähriger Sohn will ein Shahid werden, ein Märtyrer.“ Die beiden Söhne akzeptieren seine Autorität nicht mehr. Sie wollen auch keine harmlosen Spiele mehr, für sie gelte nur noch die Gewalt. In ihren Spielen ahmen sie die Selbstmordattentäter nach.

Wenn die Israel Armee kommt, nimmt sie die Männer alle fest, verhört sie unter Benutzung all dessen, was an Folter heranreicht. Und sie bieten dann immer an: Ihr könnt für uns arbeiten und gutes Geld verdienen, das heißt auf Deutsch: Kollaborateure sein.

Abu Usama wurde verhört, er wurde gefragt, wer die Kassam Raketen und von wo schießt. Und er wurde aufgefordert, für Israel als Agent oder Spitzel zu arbeiten. „Sie haben gesagt, denkt darüber nach, mit uns zu arbeiten. Eure Situation ist sehr schlecht in Gaza, aber wir können euch Geld anbieten.“

Diese Hamas Leute sind völlig verantwortungslos auch gegenüber der eigenen Bevölkerung. Die Zivilisten haben denen, die da mit mobilen Rampen immer wieder kamen, gesagt: Sie sollten das sein lassen.

Die Autorin beschreibt die Reaktionen auf die Entführung des jungen Soldaten Gilad Shalit. Der Vater von G. Shalit ist ein vernünftiger Mensch, der gesehen hat, dass es keinen Sinn macht, den ganzen Gaza Streifen in Schutt und Asche zu legen: „Der Staat Israel kann nicht seine ganze Abschreckungsmacht auf dem Rücken des Bürgers und Soldaten Gilad Shalit aufbauen, denn sein Rücken ist nicht so breit.“

Liest man sich in diesem immer gut geordneten, aber wahnsinnig materialreichen Buch fest, erkennt man die Vorzüge dieser Autorin gegenüber den bisherigen, die man zu diesem Konflikt gelesen hat. Sie ist Judaistin, sie kennt sich aus in allen Fragen der Geschichte des jüdischen Volkes und der jüdischen Kultur. Weshalb sie dann auch heftiger und ungeschminkter urteilen kann als andere. Sie ist nie zögerlich und ängstlich, sie hält keine langen salvatorischen Vorreden, sie beschreibt die Skandale, wie sie sind und wo sie sind. Ob das auf palästinensischer Seite die grässliche und unverstehbare Korruption und Reichtumsgier der Tunis Mannschaft von Jassir Arafat ist oder die verfehlte israelische Politik, die seit Ben Gurion bis heute niemals auch nur versucht hat, die Gesellschaft der Palästinenser als das zu akzeptieren, als was Martin Buber immer gefordert hat, sie zu behandeln: Als die Nachbarn auf Ewigkeit oder, wem das theologisch zu weit geht, in der Menschheitsgeschichte.

Sie zitiert die jüdisch-israelischen Zeugen, die einfach die Vergleiche anstellen mit den Schrecken der Nazi-Vergangenheit. Die völlig unzulässige Zerstörung von Wohnhäusern z.B., gegen die es in Israel eine vorzüglich kleine Organisation unter Leitung von Jeff Halper gibt, dem am 9. Mai der Immanuel Kant Preis in Freiburg zuerkannt wird. Diese „demolition of houses“ wurde in den Jahren unter Sharon unentwegt betrieben: Sogar das Oberste Gericht in Israel untersagte in einer einstweiligen Verfügung den Abriss der Häuser. Die Entscheidung wurde am nächsten Tag aufgehoben und die Häuser von Bulldozern zerstört: Der Chef der liberalen Shinui Partei wird zitiert, der sagte, als er im Fernsehen Bilder einer alten Palästinenserin sah, die in den Trümmern ihre Hauses nach ihren Medikamenten suchte, diese Bilder erinnerten ihn an seine eigene Großmutter, die in Auschwitz ums Leben gekommen sei.

B. Marx beschreibt sehr gut, wie es jemanden gehen kann, der sich freiwillig aufmacht, um ein wenig hilfreich zu sein wie die berühmt gewordene Amerikanerin Rachel Corrie. Die kam nach Gaza im Auftrag einer 2001 gegründeten jungen US-Solidaritätsmission: International Solidarity Movement. Im Januar 2003 kam sie nach Israel wollte leidenden Palästinensern helfen. Bettina Marx zitiert aus dem Email- Wechsel mit der Mutter. „Nichts hätte mich auf die Realität hier vorbereiten können, weder Bücher noch Konferenzen noch Dokumentarfilme. Man kann es sich nicht vorstellen, wenn man es nicht selbst gesehen hat“. Das ist es, was wir ja auch unseren Bundestagabgeordneten empfehlen sollten, auch wenn sie immer noch nicht sich trauen, diesem Rat zu folgen. Diesen Konflikt kann man eigentlich gar nicht einschätzen, wenn man die Realität vor Ort nicht selbst gesehen hat. Rachel Corrie, deren Bild ich noch auf dem Schreibtisch des dann gestorbenen Palästinenserchefs Arafat gesehen habe, wollte eigentlich Gandhi folgen in Palästina. Ihrer Mutter schrieb sie: 60.000 Arbeiter aus Rafah haben vor zwei Jahren in Israel gearbeitet. Jetzt können nur 600 nach Israel gehen. Viele von ihnen sind hier weggezogen wegen der drei Checkpoints zwischen Rafah und Ashkelon, der nächstgelegenen israelischen Stadt. Und dann schreibt sie ihrer Mutter, die ihr gesagt hat, die Gewalt der Palästinenser sei auch nicht hilfreich: „Wenn einer von uns zusehen müsste, wie man sein Leben und seinen Wohlstand zerstört, wenn wir mit unseren Kindern auf einem immer kleiner werdenden Raum leben müssten und wüssten, dass jeden Moment Soldaten mit Panzern und Bulldozern kommen und unsere Gewächshäuser zerstören können, wenn sie uns schlagen und mit 150 Leuten für mehrere Stunden einpferchen würden, glaubst Du nicht, dass wir dann zu gewalttätigen Mitteln greifen würden, um das zu schützen, was noch übrig ist?“.

Sie begann arabisch zu lernen. Am 16. März 2003 wollte sie zwei Bulldozer aufhalten, die in Rafah Häuser zerstörten. Als einer der Bulldozer auf das Haus eines Apothekers zufuhr, kniete sich Corrie - mit ihrer leuchtend orangefarbenen Jacke weithin sichtbar - vor ihn auf den Boden, der Bulldozer hörte nicht auf weiterzufahren. Sie stieg auf den Erdwall, der begann zu wanken, sie rutschte herunter, doch der Bulldozer hielt nicht an. Sie starb gleich danach an Schädel- und Wirbelsäule-brüchen.

Man kann das Buch nur so beschreiben: Es ist eine Orgie von hintereinander gesetzten ausführlichen Reportagen. Die Autorin muss nicht urteilen, sie muss so gut wie nie kommentieren: Alles ergibt sich für den Leser aus dem, was sie an Realität bei den Besuchen von Palästinenserfamilien (z.B. im Gaza) in Mawassi, einem Ort, der nach Ausbruch der zweiten Intifada fast ganz abgeschlossen war, gehört hat.

 

Sie beschreibt alles von den Bedürfnissen der Menschen her. Dieses Gebiet im südlichen Gaza-Streifen war berühmt für seine  Guaven. 1990 wurden von dort noch 1350 Tonnen nach Jordanien, 525 Tonnen auf die Westbank und 235 Tonnen nach Israel gewinnbringend exportiert. 2002 waren es nur noch 8 (!) Tonnen, die ins Westjordanland gingen, während der Handel in andere Gebiete zu Ende war. 2005 sank die landwirtschaftliche Produktion in Mawassi um 90 Prozent.

Kann man sich vorstellen, wie das Leben aussieht für uns, wenn uns die Produktion nicht mehr wächst, sondern um 90 Prozent geraubt wurde?

 

Das Stigma dieser Politik ist: Demütigung. Die Autorin spricht das Wort kaum aus, alles, was der Leser erfährt, ist für ihn daraufhin durchsichtig. Sie beschreibt den berüchtigten Checkpoint Tuffach: Da die Palästinenser nicht mehr den Kontrollpunkt mit Autos oder LKWs passieren durften, mussten sie die Waren auf der einen Seite der Sperre ablegen, zu Fuß in ihrem eigenen Land über die Linie tragen und auf der anderen Seite auf andere Fahrzeuge aufladen. Sie sagt nicht das entscheidende Wort, das der Leser aber schon im Kopf hat: Demütigung, „humiliation“. Sie sagt: Das Verfahren war für empfindliche Güter wie Gemüse, Obst, Fische belastend. „Und es erhöhte die Transportkosten und schmälerte damit den Profit“. Am Checkpoint Tuffach wurden Schwangere gezwungen zu gebären, der Gipfel der Demütigungsmaschinerie. Das ist der Unterschied zu dem Weltblatt in Hamburg, die fragen jemanden, der überhaupt nicht mit diesen Menschen Kontakt haben kann und darf, einen Philosophie-Professor (Moshe Halberthal), der sich nicht schämt, Berater in Sachen Ethik (!) für die Israelische Armee zu sein. Der Professor darf nicht wie Bettina Marx dorthin. Das ist Israelis verboten. Auf die Frage, ob es stimmt, dass ein Militärrabbiner in einem Flugblatt die Soldaten aufgefordert habe, keine Gnade mit dem Feind zu haben, muss er das zugeben und sagt:  Die Religion spiele ein destruktive Rolle. Aber das alles geschieht. Wir sollen nur in Deutschland das immer gefiltert erfahren, indem ein Philosophie-Ethik-Professor uns sagt: „Ach wissen Sie, das ist alles passiert, aber wir bemühen uns um eine Ethikberatung. Und so etwas haben die dreckigen Palästinenser ja nicht: Ethikberatung!“

Bettina Marx berichtet von den Übergriffen jüdischer Siedler, etwas, das kaum jemand in Deutschland wissen darf, denn es macht das prästabilisierte Bild der Opfer und der Aggressoren/Terroristen kaputt. Der elfjährige Yussef in Mawassi will einfach mal zum Meer gehen: „Die Juden erlauben es nicht. Sie schicken uns zurück und werfen Steine nach uns. Sie sagen: verschwindet von hier. Das ist unser Meer“. Im Oslo II Abkommen war den Palästinensern ein fünf Kilometer langer Strand für Sport und Freizeit am Gaza Strand  zugestanden worden, doch auch das wurde immer stärker eingeschränkt. Aus Furcht vor den Übergriffen der Siedler zogen es die Bewohner vor, dorthin nicht zu geben. Die sog. ägyptischen Offiziershäuschen wurden von den Siedlern zu Ställen umfunktioniert. Vor dem Rückzug der Israelis wurden sie von den israelischen Behörden abgerissen, angeblich um zu verhindern, dass sie Palästinenser sich darin verbarrikadieren.

Bettina Marx spricht den Rabbi Yosef Elnekaveh an, sie kann hebräisch, braucht keinen Übersetzer. Der Rabbi weiß ganz genau: „Abraham hatte zwei Söhne, Isaak und Ismael. Isaak hat er das Land gegeben und Ismael hat er es nicht gegeben. Er hat ihn gesegnet und dieser Segen ist eingetreten. Die Araber haben Gold, sie haben Erdöl, das sind die Segen unseres Erzvaters Abraham. Aber das Land Israel hat er ihnen nicht gegeben. Wollen Sie, dass wir ihnen das Erdöl nehmen? Der Heilige, gelobt sei er, hat sie mit Erdöl gesegnet und uns hat er das Land Israel gegeben!“

Das Buch muss man an einem Wochenende anfangen zu lesen, weil man nicht stoppen kann, die 400 Seiten hintereinander zu verschlingen. Wie gesagt: Das ist die große Leistung einer unbeirrbar tüchtigen Reporterin, die alles besucht hat, alle gesprochen hat und das alles immer nur aufschreibt. Sie hat bis zum Schluss diesen Stil beibehalten. Das Buch ist eine einzige Anklage, obwohl sie kein Wort der Anklage verwendet.

 

Bettina Marx: Gaza - Tausendundeins Verlag 2009

 

 

 

Warum der Waffenstillstand scheitern musste

Auszüge aus dem gleichnamigen Text von Ivesa Lübben (freie Journalistin und Poltikwissenschaftlerin in Bremen/Kairo), der auf http://awis-islamforschung eu/meinungen/warum-der-waffenstillstand-scheitern-musste  zu finden ist.

Ihre  Analyse schildert u.a. sehr detailliert die Zeit zwischen dem Waffenstillstand am 18.6.2008 und dem Beginn des Krieges am 27.12.2008 und bietet eine Menge bisher wenig veröffentlichter Fakten. Einige mir besonders wichtig erscheinende Auszüge der äußerst lesenswerten Studie habe ich nachfolgend zusammengestellt. Die mehrfach genannte "Ma`an" ist die größte palästinensische Nachrichtenagentur.

(...)

"Hamas hat nichts zu tun mit terroristischen Organisationen wie al-Qaida oder der ägyptischen Jama`at al-Islamiya, wie die verbreitete Kategorisierung `radikal-islamistisch´ evoziert. Im Gegenteil wurde die HAMAS immer wieder von der al-Qaida auf deren Websites angegriffen, weil sie angeblich durch ihre Kompromissbereitschaft, ihren Pragmatismus und vor allem die Beteiligung an der Wahl zum palästinensischen Legislativrat die Prinzipien des Islam hintergangen hätte. Die de-facto-HAMAS-Regierung im Gazastreifen soll den ägyptischen Behörden sogar Qaida-Mitglieder, die von Ägypten nach Gaza geflohen waren, ausgeliefert haben - einer der Gründe, warum die Ägypter in der Tunnelfrage immer wieder die Augen zudrückten." (S. 3)

"Die Annahme, dass die bewaffneten Fatah-Einheiten im Sommer 2007 durch HAMAS ausgeschaltet wurden, ist unrichtig." (S. 6)

"Am 24. Juni werden zwei junge Funktionäre des Jihad in ihrer Wohnung in Nablus durch Einheiten der IDF (Israeli Defence Forces) ermordet. Noch am selben Tag schießen die Quds-Brigaden als Vergeltung drei Raketen auf Sederot." (S. 13)

"Am 24. Juni verurteilt der HAMAS-Ministerpräsident Ismail Haniya zwar die Morde in Nablus, richtet aber gleichzeitig einen dramatischen Appell an die anderen Fraktionen, den Waffenstillstand zu respektieren. (...) In den folgenden Wochen werden immer wieder Mitglieder der Aqsa-Brigaden durch HAMAS verhaftet, was ihr wiederum den Vorwurf seitens der Aqsa-Brigaden einbringt, sie wolle den berechtigten Widerstand des palästinensischen Volkes unterbinden." (S. 13).

"Trotz der Einhaltung der Waffenruhe durch HAMAS droht der israelische Verteidigungsminister Ehud Barak am 4. August auf einer Sitzung der israelischen Arbeiterpartei mit einem Truppeneinmarsch im Gazastreifen." (S. 14)

"Die IDF-Führung (schätzt) den Waffenstillstand zwei Monate nach dessen Beginn positiv ein, weil er zu einer Beruhigung der Situation in den an den Gaza-Streifen angrenzenden Gebieten geführt habe. Anders der innere Geheimdienst Shin Bet, dessen Direktor Yuval Diskin der Ansicht ist, ein Waffenstillstand würde den Druck auf die HAMAS, Shalit (Anm. C.R.: Gilat Shalit, israelischer Soldat in palästinensischer Gefangenschaft) freizulassen, verringern. Er  ruft die Armee auf, sich auf einen größeren Militärschlag vorzubereiten. (Ma`an 8.8.2008). Diese Äußerungen verstärken unter den Palästinensern den Eindruck, dass der Waffenstillstand seitens der israelischen Führung nur dem Zeitgewinn zur Vorbereitung einer Offensive dient." ( S. 15)

"Die Tatsache, dass es keine Beobachtung gab, hatte eine asymmetrische Berichterstattung zur Folge. Die unzähligen israelischen Verletzungen des Abkommens auch schon vor den Ereignissen des 4. November (Anm. C.R.: Invasion einer israelischen Kommandoeinheit in den Gazastreifen zur angeblichen Zerstörung eines Tunnels mit sechs palästinensischen Toten als Folge) blieben von der Weltöffentlichkeit und der internationalen Politik unbeachtet, während andererseits jede palästinensische Rakete ohne jeden Kontextbezug und ohne die Urheberschaft zu verifizieren medial überproportional als Angriff der `radikal-islamistischen´ HAMAS ausgeschlachtet wurde." (S. 15)

"Die empirischen Daten ergeben ein anderes Bild: Bereits am 19. Juni, also am ersten Tag des Waffenstillstandes schießen israelische Kriegsschiffe vier Raketen auf palästinensische Fischer in den palästinensischen Hoheitsgewässern. Am selben Tag lassen Kampfflugzeuge, die über Gaza-Stadt kreisen, Schall-Bomben explodieren und lösen eine Panik unter der Bevölkerung aus. In der Gegend von Khan Yunis schießen israelische Patrouillen über den Grenzzaun hinweg auf Bauern, die jenseits der Grenzbefestigungen auf ihren Äckern arbeiten. (Ma`an 26.6.2008). Dieses Szenario ... wiederholt sich fast täglich." (S. 15f)

"Im November schlagen israelische Bulldozer auf dem Gebiet des Gazastreifens eine 150 m breite Schneise für Militärpatrouillen und zerstören dabei etwa 750 ha Agrarland. (Ma`an 12.11.2008)". (S. 16)

"Ende September wird der Tunnelbauer Abu Dawabah in Israel verhaftet. Abu Dawabah ist eine dubiose Figur. Er war früher im Rauschgiftschmuggel tätig, bevor er im Tunnelgeschäft ein Vermögen machte. Dawabah behauptet beim Verhör, dass ihm sowohl von der HAMAS als auch von den Aqsa-Brigaden Geld für die Entführung eines israelischen Soldaten geboten worden sei. (Ma`an 3.11.2008). Einen Tag später erfolgt ein Dementi aus dem HAMAS-Innenministerium". (S. 17)

"Statt zu versuchen, den Fall über die Vermittlung ägyptischer Sicherheitsdienste (...) aufzuklären, dringen am Abend des 4. November israelische Truppen nach Khan Yunis ein. Gezielt eingesetzte Projektile töten sechs HAMAS-Mitglieder und verwunden mehrere Menschen, darunter eine Frau. In Deir al-Balah werden mehrere Raketen auf Wohngebiete abgeschossen. In der Nähe von Wadi Salqa werden zwei Häuser der Hawaidi-Familie zerstört und sieben Familienmitglieder - darunter drei Frauen - nach Israel verschleppt. Am gleichen Tag verbieten israelische Grenzposten französischen Konsulatsbeamten, die sich ein Bild von der Lage machen wollen, den Gazastreifen zu betreten. Am folgenden Tag werden Wohngebiete im Norden des Gazastreifens und in Khan Yunis beschossen. Israelische Truppen töten einen Führer des Jihad. Daraufhin schießen die HAMAS, die Aqsa-Brigaden und der Jihad Raketen auf Israel. Der Jihad und die Aqsa-Brigaden erklären, der Waffenstillstand werde sie nicht davon abhalten, auf israelische Verletzungen des Abkommens zu reagieren. Die Volkskomitees erklären, Israel habe das Abkommen zerbombt". (S. 17)

"Trotzdem will die HAMAS am Waffenstillstand festhalten und bittet Ägypten um Vermittlung. Die HAMAS warnt vor einer neuen Runde der Gewalt, sollte die Blockade nicht aufgehoben werden. Am 8. November dringen an mehreren Stellen israelische Bulldozer in den Gazastreifen ein. Es kommt zu bewaffneten Zusammenstößen mit Einheiten der DFLP (Anm. C.R.: Demokratische Front für die Befreiung Palästinas). Am 12. November werden vier weitere HAMAS-Mitglieder getötet. Israelische Flugzeuge schießen Raketen auf Wohngebiete". (S. 17f)

"Die Situation eskaliert: In den nächsten Tagen schießen die PFLP (Anm. C.R.: Volksfront zur Befreiung Palästinas), die DFLP, die Volkskomitees und die Hamas Projektile auf israelische Orte, während israelische Flugzeuge den Norden des Gazastreifens bombardieren. Am 16. November ruft der israelische Transportminister dazu auf, die gesamte HAMAS-Führung umzubringen. Bei neuen Angriffen werden vier Mitglieder der Volkskomitees getötet. Inzwischen sind 15 Menschen bei den Luftangriffen der letzten Tage ums Leben gekommen. Die Volkskomitees erklären den Waffenstillstand für beendet. Ihr Sprecher gibt Israel die Verantwortung. Am 17. November schießen die DFLP und der Jihad Raketen nach Israel. Am 18. November dringen israelische Panzer in den Streifen ein, es kommt zu bewaffneten Zusammenstößen mit der PFLP und Mujahedin, einer weiteren Widerstandsgruppe der Fatah". (S. 18)

"Die Lebensmittelkrise spitzt sich weiter zu. 50% der Bäckereien können wegen Mangels an Mehl nicht mehr arbeiten. Andere verwenden Tierfutter zum Brotbacken. Am 20. November wird erneut ein HAMAS-Mitglied durch gezielten Raketenbeschuss ermordet". (S. 18)

"Am 23. November heißt es aus diplomatischen Quellen, die Ägypter hätten sich eingeschaltet und zwischen HAMAS und der israelischen Regierung die Rückkehr zum Waffenstillstand zu den ursprünglich ausgehandelten Bedingungen vereinbart. Dies wird von der HAMAS bestätigt. HAMAS-Sprecher Ayman Taha erklärt außerdem, dass sich auch die anderen Widerstandsgruppen zur Fortsetzung des Waffenstillstandes bereit erklären - unter der Bedingung , dass die Blockade aufgehoben wird. Die israelische Seite äußert sich nicht dazu. Im Gegenteil - der israelische Verteidigungsminister Barak nimmt den Befehl, die Grenze für dringend benötigte Lebensmittellieferungen zu öffnen, wieder zurück, nachdem laut israelischer Angaben Raketen abgeschossen wurden, für die jedoch kein Bekennerschreiben vorliegt". (S. 18)

"Am 2. Dezember dringen wieder israelische Panzer in den Gazastreifen ein. Bei Luftangriffen werden zwei Teenager getötet". (S. 20)

"Zu einer weiteren Eskalation im Gazastreifen kommt es nach den massiven Übergriffen von Siedlern auf Palästinenser in Hebron am 5. Dezember. Die palästinensischen Organisationen sprechen von einem Versuch der `ethnischen Säuberung´ (Ma`an 5.12.2008). Während die Aqsa-Brigaden, die DFLP und die Quds-Brigaden des Jihad als Reaktion auf die Vorfälle in der Westbank Raketen auf israelische Orte schießen, organisiert die HAMAS Solidaritätsdemonstrationen mit den Palästinensern in Hebron, um das, was von dem Waffenstillstandabkommen übrig geblieben ist, nicht auch noch zu gefährden. Die Situation in der Westbank eskaliert weiter: Es kommt zu der größten Verhaftungswelle seit der zweiten Intifada: 390 Verhaftete, darunter 65 Minderjährige. Tzipi Livni heizt die Spannung weiter an, als sie am 13. Dezember erklärt, dass im Falle der Gründung eines palästinensischen Staates die in Israel lebenden Palästinenser aus Israel ausgebürgert würden". (S. 20f)

"Mehrfach muss die UNRWA, von deren Lebensmittelunterstützung die Hälfte der Menschen im Gaza abhängig ist, die Verteilung von Lebensmitteln einstellen. Das World Food Program, die zweite internationale Organisation, die Lebensmittelhilfe leistet, berichtet, dass die israelischen Grenzbehörden im November nur noch 6% der von ihm benötigten Warenlieferungen in den Gazastreifen gelassen hätten. Nicht nur das: Die Israelis verlangen auch noch Lagergebühren für die Lieferungen, die an den Grenzübergängen festgehalten werden. Das World Food Program muss allein im November 215 000 $ zahlen. 30 der 47 Bäckereien müssen schließen, weil sie kein Heizöl mehr haben. (...) Auch die Krankenhäuser können eine durchgehende Stromversorgung nicht mehr garantieren. Dadurch fallen lebensrettende Inkubatoren oder Beatmungsgeräte teilweise oder ganz aus. Auch die Abwasser- und Trinkwasserversorgung ist von den Stromausfällen betroffen". (S. 21)

 "Inzwischen sieht keine Organisation mehr einen Sinn in der Verlängerung des Waffenstillstandes. Regelmäßig beschießen Brigaden der DFLP, der Aqsa-Brigaden, der Volkskomitees und des Jihad israelische Orte. Die politische Führung der HAMAS in Gaza, vor allem der de-facto-Präsident Haniya, hat keine Mittel, das zu unterbinden, da auch der eigene bewaffnete Flügel, die Qassam-Brigaden, keinen Sinn mehr im Waffenstillstand sieht. Am 14. Dezember erklärt auch die HAMAS-Auslandsführung durch Khaled Mashaal, die HAMAS lehne eine Verlängerung ab, während Haniya immer noch hofft, dass es mit ägyptischer Vermittlung zu einer Verlängerung kommt. Am 19. Dezember, am Tag an dem das sechsmonatige Waffenstillstandsabkommen ausläuft, erklären alle Fraktionen auf getrennten Massenveranstaltungen, dass sie den Waffenstillstand für beendet halten - auch die Fatah, obwohl aus Ramallah verlautet, der Sprecher des Gazastreifens, Abu Harun, sei nicht autorisiert im Namen der Fatah zu sprechen. Die Fatah-Organisation in Gaza ignoriert dies. Die Führung in Ramallah hat kaum nach Einfluss auf die Organisation im Gaza". (S. 22)

"Am 23. Dezember erklärt der ehemalige Außenminister der HAMAS-Regierung, Mahmud al-Zahhar, noch einmal, dass die HAMAS zur Fortsetzung des Waffenstillstandsabkommens bereit sei, wenn sich Israel an die im Juni vereinbarten Bedingungen - also vor allem die Aufhebung der Blockade - hält. Allerdings ist der Diskurs der Qassam-Brigaden gedämpfter. Abu Ubaida, Sprecher der Qassam-Brigaden, spricht lediglich von der Möglichkeit der Aussetzung der Kampfhandlungen, nicht mehr von einem Waffenstillstand und will auch Aktionen in Israel nicht ausschließen, falls dieses mit seiner Aggression in Gaza nicht aufhört (Ma`an, 23.12.2008). Aber da ist es schon zu spät. Die Kriegsvorbereitung ist längst angelaufen". (S. 22f)

(...)

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Clemens Ronnefeldt  Referent für Friedensfragen beim Internationalen Versöhnungsbund - Deutscher Zweig; A.-v.-Humboldt-Weg 8a 85354 Freising; Tel.: 08161 54 70 15 Fax:  08161 54 70 16
C.Ronnefeldt@t-online.de www.versoehnungsbund.de

Spendenkonto für die Arbeit des Versöhnungsbund-Friedensreferates: Sparkasse Minden-Lübbecke, Konto-Nr. 400 906 72, BLZ  490 501 01 Stichwort: "Friedensreferat³.

 


 

   Religiöse Gruppen vereinnahmen die israelische Armee

 Von Jonathan Cook, Auslandskorrespondent - 4. Februar 2009

 

 

NAZARETH // Kritischen Stimmen zufolge übernehmen extremistische Rabbiner und ihr Geheimen die israelische Armee. Sie sind entschlossen, einen Heiligen Krieg gegen die Palästinenser zu führen.

 

Im Zusammenhang mit einer Entwicklung, die ein Militärhistoriker als rapide "Theologisierung" der israelischen Armee bezeichnet hat, existieren bereits ganze religiöse Kampfverbände, von denen viele in den Siedlungen der Westbank stationiert sind. Sie folgen dem Aufruf von Hardline-Rabbinern, die die Errichtung eines Groß-Israel propagieren, das auch die besetzten palästinensischen Gebiete einschließt.

 

Beobachtern zufolge ist ihr Einfluss auf die Gestaltung der Ziele und Methoden der Armee bereits zu bemerken, da sich immer mehr Absolventen von Offizierslehrgängen auch aus den extremistischen Bevölkerungsgruppen Israels rekrutieren.

 

"Wir haben den Punkt erreicht, an dem eine kritische Masse religiöser Soldaten versucht, mit der Armee darüber zu verhandeln, auf welche Weise und zu welchem Zweck militärische Gewalt auf dem Schlachtfeld eingesetzt wird", erklärte Jigal Levy, ein Politiksoziologe an der Offenen Universität, der eine Reihe von Büchern über die israelische Armee verfasst hat.

 

Die neue Atmosphäre zeigte sich deutlich an der "übermäßigen Gewalt", die während der jüngsten Gaza-Offensive zum Einsatz kam", meinte Dr. Levy. Über 1.300 Palästinenser wurden getötet, in der Mehrheit Zivilisten, und Tausende wurden verwundet, als in Gaza ganze Nachbarschaften dem Erdboden gleichgemacht wurden.

 

"Wenn Soldaten, eingeschlossen die weltlich orientierten, von religiösen Ideen erfüllt sind, macht sie das weniger empfindsam für die Menschenrechte oder das Leiden der anderen Seite."

 

Die größere Rolle extremistischer Gruppen in der Armee kam in der letzten Woche ans Licht, als sich herausstellte, dass das Armeerabbinat eine Broschüre an die Soldaten zur Vorbereitung auf die jüngste 22-Tage-Offensive in Gaza verteilt hatte.[1]

 

Yesch Din [2], eine israelische Menschenrechtsgruppe, berichtete, dass das Material Botschaften enthält, die "an eine Anstiftung zum Rassenhass gegen das palästinensische Volk grenzen" und Soldaten möglicherweise dazu veranlasst haben, internationales Recht zu missachten.

 

Die Broschüre zitiert ausgiebig Schlomo Aviner, einen Rabbiner der äußersten Rechten, der ein religiöses Seminar im muslimischen Viertel von Ost-Jerusalem leitet. Er vergleicht die Palästinenser mit den Philistern, dem biblischen Feind der Juden.

 

Er gibt den Rat: "Wenn du einem grausamen Feind gegenüber Erbarmen zeigst, dann bist du grausam zu unschuldigen und ehrlichen Soldaten ... Dies ist ein Krieg gegen Mörder."

 

Die Broschüre wurde von dem obersten Armeerabbiner, Brigadegeneral Avichai Ronski befürwortet, der dem Vernehmen nach entschlossen ist, die "Kampfkraft" der Armee zu verbessern, seit diese 2006 daran scheiterte, die Hisbollah im Libanon vernichtend zu schlagen.

 

Israelischen Medien zufolge wurde General Ronski vor drei Jahren mit dem Ansinnen eingesetzt, religiöse Hardliner in der Armee und der Siedlergemeinschaft versöhnlich zu stimmen.

 

General Ronski, selbst Siedler der Gemeinschaft Itamar in der Nähe von Nablus, steht Gruppierungen der äußersten Rechten nahe. Berichten zufolge besucht er regelmäßig Mitglieder jüdischer Terrorgruppen im Gefängnis. Er hat sein Domizil einem Siedler zur Verfügung gestellt, der unter Hausarrest steht, weil er Palästinenser verletzt hat, und er hat höhere Offiziere in eine kleine Gruppe von extremistischen Siedlern eingeführt, die unter mehr als 150.000 Palästinensern in Hebron lebt.

Darüber hinaus hat er das Rabbinat gründlich umgestaltet, das ursprünglich zu dem Zweck gegründet worden war, religiöse Dienste anzubieten und sicherzustellen, dass gläubige Soldaten die Möglichkeit erhalten, den Sabbath einzuhalten und in der Armeekantine koschere Mahlzeiten einzunehmen.

 

Während des letzten Jahres ist es dem Rabbinat gelungen, über seine Abteilung für Jüdisches Bewusstsein [3] die Rolle des Ausbildungskorps der Armee zu übernehmen. Diese Abteilung koordiniert ihre Aktivitäten mit Elad, einer Siedler-Organisation, die in Ost-Jerusalem aktiv ist. Im Oktober zitierte die Zeitung Ha'aretz [4] einen nicht weiter genannten leitenden Offizier, der das Rabbinat beschuldigte, eine religiöse und politische Gehirnwäsche der Truppen zu betreiben.Dr. Levy merkte an, dass die Macht des Armeerabbinats mit der wachsenden Zahl gläubiger Soldaten im Heer zunehme.Laut dem Projekt "Das Schweigen brechen" [5], das von Soldaten ins Leben gerufen wurde, die das Verhalten der Armee gegenüber Palästinensern an die Öffentlichkeit bringen wollen, stammt die Broschüre, die an die Truppen in Gaza verteilt wurde, ursprünglich von Siedlern in Hebron.

 

"Das Dokument gibt es mindestens schon seit 2003", meinte Mikhael Manekin, 29, der selbst die religiösen Regeln befolgt und einer der Direktoren der Gruppe ist. "Aber das Neue daran ist, dass die Armee erfolgreich dafür herangezogen wird, den Soldaten die Ansichten der extremistischen Siedler nahe zu bringen."

 

Die Macht der religiösen Rechten in der Armee spiegelt einen umfassenderen Trend in Israel wider, meinte Dr. Levy. Er wies darauf hin, dass die ländlichen Kooperativen,  bekannt als Kibbuzim, die einst die säkulare Mittelklasse Israels beheimatet und den Großteil des Offizierskorps hervorgebracht haben, seit den frühen 1980er Jahren im Schwinden sind."Das durch ihren allmählichen Rückzug aus der Armee entstandene Vakuum wurde von gläubigen Jugendlichen und den Kindern der Siedlerbewegung gefüllt. Sie dominieren jetzt in vielen Bereichen der Armee."

 

Laut Zahlen, die in den israelischen Medien zitiert wurden, ist über ein Drittel der Soldaten in den Kampfeinheiten gläubig. Das gleiche gilt für über 40 Prozent der Absolventen von Offizierslehrgängen.

 

Die Armee hat diesen Trend unterstützt, indem sie ungefähr zwei Dutzend Hesder Jeschiwot [6] gegründet hat, Seminare, in denen junge Menschen in separaten religiösen Einheiten biblische Studien mit dem Armeedienst kombinieren können. Viele dieser Jeschiwot befinden sich in der Westbank, und die Studenten werden von extremistischen Rabbinern aus den Siedlungen unterrichtet.

 

Ehud Barak, der Verteidigungsminister, hat das Programm zügig ausgeweitet und im letzten Sommer vier Jeschiwot genehmigt, drei davon befinden sich in Siedlungen. Weitere zehn warten dem Vernehmen nach auf seine Genehmigung.

 

Herr Manekin warnt jedoch davor, die gegen die Zivilisten in Gaza gerichtete Gewalt allein auf den Einfluss religiöser Extremisten zurückzuführen.

 

"Die Armee wird nach wie vor von Israels säkularer Elite geführt, und diese hat schon immer ohne Rücksicht auf die Sicherheit von Zivilisten gehandelt, wenn sie Krieg führt. Jüdischer Nationalismus, der den Tod von Palästinensern rechtfertigt, ist genauso gefährlich wie religiöser Extremismus."

 

 

Anmerkungen der Redaktion Schattenblick:

 

[1] Titel: "Go Fight My Fight: A Daily Study Table for the Soldier and Commander in a Time of War"

[2] Yesh Din - www.yesh-din.org/site/index.php

[3] Jewish Awareness Department

[4] http://www.haaretz.com/hasen/spages/1030558.html  Israel military rabbi under fire for 'brainwashing' soldiers -  23/10/2008,  Zugriff: 12.02.2009

[5] Breaking the Silence - www.breakingthesilence.org.il

[6] Jeschiwot = Mehrzahl von Jeschiwa (Talmud(hoch)schule)

 

Über den Autor:

Jonathan Cook ist der einzige westliche Journalist, der in Nazareth lebt, der Hauptstadt der palästinensischen Minderheit in Israel. Er war zuvor Mitarbeiter bei den Zeitungen The Guardian und Observer und hat über den israelisch-palästinensischen Konflikt auch für die Times, Le Monde diplomatique, die International Herald Tribune, Al-Ahram Weekly, Counterpunch und Aljazeera.net geschrieben. Er ist Autor von „Blood and Religion“ (2006) und

von “Israel and the Clash of Civilisations” (2008).

 

Sein neuestes Buch "Disappearing Palestine: Israel's Experiments in Human Despair" ist im Oktober 2008 bei Zed Books in Großbritannien und in den Vereinigten Staaten erschienen. Weitere Informationen zum Buch unter:

http://www.jkcook.net/DisappearingPalestine.htm

 

Weitere Texte von Jonathan Cook findet man auf seiner Website unter: http://www.jkcook.net/

 

Übersetzung aus dem Englischen: Redaktion Schattenblick

Englischer Originaltext: http://www.jkcook.net/Articles2/0370.htm#Top

Die Originalfassung dieses Artikels wurde in der Zeitung "The National", Abu Dhabi, veröffentlicht. http://thenational.ae

Quelle:   © Jonathan Cook, 4. Februar 2009 mit freundlicher Genehmigung des Autors  Internet: www.jkcook.net

veröffentlicht in „Schattenblick“,  13. Februar 2009

 

 

 

 

Ein kleines rotes Licht

 Uri Avnery, 18.4.09

 

VIELLEICHT ist Avigdor Lieberman nur eine vorübergehende Episode in  der Geschichte des Staates Israel. Vielleicht wird das Feuer, das er anzuzünden versucht, nur  kurz flackern und von selbst wieder ausgehen. Oder  vielleicht werden auch die schwerwiegenden Korruptionsvorwürfe gegen ihn und die daraus resultierenden polizeilichen Ermittlungen dazu führen, dass er von der öffentlichen Bühne entfernt wird.

 

Aber auch das Gegenteil ist möglich. Letzte Woche versprach er seinen Gefolgsleuten, dass ihn die nächsten Wahl an die Macht bringen werde.

 

Vielleicht wird sich Lieberman als "Israbluff" entpuppen (ein Ausdruck, den er selbst gerne anwendet) und enthüllen, dass hinter der furchtbaren Fassade nichts anderes steckt als ein gewöhnlicher Hochstapler.

 

Vielleicht wird dieser Lieberman tatsächlich verschwinden und durch einen anderen, womöglich Schlimmeren ersetzt werden.

 

Auf jeden Fall sollten wir uns mit dem Phänomen, das er repräsentiert, offen aus einander setzen. Wenn jemand glaubte, seine Äußerungen klingen faschistisch, dann sollte man sich fragen: besteht die Möglichkeit, dass in Israel ein faschistisches Regime an die Macht kommt?

 

 

DAS ANFÄNGLICHE Bauchgefühl ist ein überwältigendes >Nein<. In Israel?  In einem jüdischen Staat? Nach dem Holocaust, den der Nazi-Faschismus über uns brachte?  Kann sich jemand vorstellen, dass Israelis so etwas wie Nazis werden?

 

Als Professor Yeshayahu Leibowitz vor vielen Jahren den Ausdruck ‚Judäo-Nazis’  prägte, war das ganze Land empört. Ja, viele seiner Bewunderer dachten, dieses Mal  sei der ungestüme Professor zu weit gegangen.

 

Aber Liebermans Slogans rechtfertigen ihn im Nachhinein.

 

Einige schätzen Liebermans Erfolge bei der letzten Wahl als vernachlässigenswert ein. Schließlich ist  seine Partei >Israel - unser Heim< nicht die erste Partei, die aus dem Nichts kam und erstaunliche 15 Sitze gewann. Genau dieselbe Anzahl wurde in der Vergangenheit von der Dash-Partei des General Yigael Yadin 1977 und der Shinui-Partei von Tommy Lapid 2003 errungen  - und beide verschwanden bald danach, ohne eine Spur zu hinterlassen.

 

Aber Liebermans Wähler ähneln nicht den Wählern von Yadin und Lapid, die ganz gewöhnliche Bürger waren, die  von einigen besonderen Erscheinungen des israelischen Lebens  die Nase voll hatten. Viele seiner Wähler sind Immigranten aus der früheren Sowjetunion. Sie betrachten ihren ‚Ivett’, einen Immigranten aus dem ehemals sowjetischen Land Moldawien, als einen Vertreter ihres „Sektors“. Viele von ihnen brachten  aus ihrer früheren Heimat  zwar ein rechtslastiges, antidemokratisches und  sogar rassistisches Weltbild mit sich, aber sie selbst stellen für die israelische Demokratie keine Gefahr dar.

 

Aber die zusätzliche Macht, die Liebermans Partei  zur drittgrößten Fraktion in der neuen Knesset  werden ließ, kam von einer anderen Art von Wählern: den in Israel geborenen jungen Leuten, von denen viele kürzlich am Gazakrieg teilgenommen hatten. Sie stimmten für ihn, weil sie glaubten, er würde die  arabischen Bürger  aus Israel und die Palästinenser aus dem ganzen Land hinausschmeißen.

 

Es sind  keine randständigen, fanatischen und unterprivilegierten Leute, sondern normale junge Leute, die die High-School beendet hatten und in der Armee dienten, die in den Diskotheken tanzen und Familien gründen wollen. Wenn solche Leute massenhaft in der Lage  sind, für einen erklärten Rassisten mit scharfem faschistischen Geruch zu stimmen, dann muss das Phänomen genauer unter die Lupe genommen werden.

 

 

VOR FÜNFZIG Jahren schrieb ich ein Buch ‚Das Hakenkreuz’, in dem ich beschrieb, wie die Nazis Deutschland eroberten. Meine Kindheitserinnerungen halfen mir dabei. Ich war  neun Jahre alt, als die an die Macht kamen. Ich wurde Zeuge der Agonie der deutschen Demokratie und der ersten Schritte des neuen Regimes, bevor meine Eltern in unglaublicher Weisheit sich entschieden, das Land zu verlassen und sich in Palästina anzusiedeln.

 

Ich schrieb das Buch am Vorabend  des Adolf-Eichmann-Prozesses, als ich bemerkte, dass die junge Generation in Israel viel über den Holocaust wusste, aber fast nichts über die Leute, die ihn verursachten. Was mich mehr als alles andere beschäftigte, war die Frage: wie konnte solch eine monströse Partei in demokratischer Weise in einem der zivilisiertesten Länder der Welt an die Macht kommen?

 

Das letzte Kapitel in meinem Buch hieß „Es kann hier geschehen“. Es war eine Paraphrase des Titels eines Buches des amerikanischen Schriftstellers Sinclair Lewis: ‚Es kann hier nicht geschehen’, in dem er  genau beschrieb, wie es in den USA geschehen könnte.

 

Ich behauptete in dem Buch, dass Nazismus nicht eine spezifisch deutsche Krankheit sei, dass unter bestimmten Umständen jedes Land der Welt mit diesem Virus infiziert werden könnte – unseren eigenen Staat mit eingeschlossen. Um diese Gefahr zu verhindern, muss  man die zugrunde liegenden Ursachen  für die Entwicklung der Krankheit erkennen.

 

Zu der Behauptung, dass ich von dieser Sache ‚besessen’ sei, dass ich diese Gefahr hinter jeder Ecke lauern sehe, kann ich nur sagen: das stimmt nicht. Jahrelang hab ich es vermieden, mich mit diesem Thema zu befassen. Aber es stimmt, ich habe in meinem Kopf  so etwas wie ein  rotes Lämpchen, das sich anschaltet, wenn ich das Gefühl habe, dass Gefahr droht.

 

Jetzt blinkt  es rot auf.

 

 

WAS BRACHTE diese Krankheit in der Vergangenheit zum Ausbruch ? Warum brach sie zu einem bestimmten Zeitpunkt aus und nicht zu einer anderen Zeit? Warum in Deutschland und nicht in einem anderen Land mit ähnlichen Problemen?

 

Die Antwort lautet: Faschismus ist ein spezielles Phänomen  und nicht mit anderen zu vergleichen. Es ist nicht eine ‚extreme Rechte’, eine Erweiterung von ‚nationalistischen’ oder ‚konservativen’ Einstellungen. Faschismus ist das Gegenteil von Konservatismus, auch wenn er in konservativer Verkleidung daherkommt. Er ist auch keine Radikalisierung eines gewöhnlichen, normalen Nationalismus, den es in jeder Nation  gibt.

 

Faschismus ist ein einzigartiges Phänomen und hat einzigartige Züge: Die Idee, eine ‚Übernation’ zu sein,  anderen Völkern und nationalen Minderheiten die Menschlichkeit abzusprechen, der Führerkult, ein Kult der Gewalt, Verachtung der Demokratie, eine besondere Vorliebe für Krieg, Verachtung  für  Moral und Ethik. All diese Attribute zusammen schaffen das Phänomen, das keine  anerkannte wissenschaftliche Definition hat.

Wie geschah das?

 

Hunderte von Büchern sind schon darüber geschrieben worden, Dutzende von Theorien  sind aufgestellt worden, und keine  ist befriedigend. In aller Bescheidenheit schlag ich meine eigene Theorie vor, ohne zu beanspruchen, dass sie mehr Gültigkeit hat als andere.

 

Meiner Meinung nach bricht eine faschistische Revolution dann aus, wenn eine  ganz besondere Persönlichkeit auf eine ganz  besondere nationale Situation trifft.

 

 

AUCH ÜBER die Person Adolf Hitlers wurden schon unzählige Bücher geschrieben. Jede Phase seines Lebens ist genauestens untersucht, jede seiner Aktionen ist unerbittlich debattiert worden. Es gibt keine Geheimnisse mehr über Hitler - doch Hitler bleibt ein Rätsel.

 

Einer seiner  offensichtlichsten Charakterzüge war sein pathologischer Antisemitismus, der  mit Logik nicht zu erklären ist. Er hielt  bis zu den letzten Stunden seines  Lebens daran fest, als er sein Testament diktierte und Selbstmord beging. In den verzweifeltsten  Augenblicken seines Krieges, als die Soldaten nach Verstärkung und Nachschub schrieen, wurden wichtige Eisenbahnzüge umgeleitet, um Juden zu den Todeslagern zu transportieren. Als die Wehrmacht unter ernstem Mangel an allem litt, wurden jüdische Arbeiter aus wichtigen Fabriken abgezogen, um in den Tod geschickt zu werden.

 

Viele Erklärungen schon sind für diesen pathologischen Antisemitismus herangezogen worden und alle wurden widerlegt. Wollte Hitler an einem Juden Rache nehmen, der  verdächtigt wurde, sein wirklicher Großvater zu sein? Hasste er den jüdischen Arzt, der seine geliebte Mutter behandelte, bevor sie starb?  War es eine Strafe für den jüdischen Direktor der Kunstschule, der es versäumte, in ihm ein Kunstgenie zu erkennen? Hasste er die  armen Juden, die ihm begegneten, als er in Wien heimatlos herumirrte? Alles  ist geprüft  und für fehlerhaft befunden worden. Das Rätsel bleibt.

 

Dasselbe gilt auch für seine anderen persönlichen Ansichten und Eigenschaften. Wie war es ihm möglich, die Massen zu hypnotisieren? Was hatte er an sich, das so viele Leute aller Schichten veranlasste, sich mit ihm zu identifizieren? Woher kam seine ungehemmte Lust zur Macht?

 

Wir wissen es nicht. Es gibt keine befriedigende Erklärung. Wir wissen nur, dass unter den Millionen von Deutschen und Österreichern, die zu jener Zeit lebten, und den Tausenden, die unter ähnlichen Umständen aufwuchsen, es - so weit wir wissen - nur einen Hitler gab, eine einzigartige Person. Um einen Ausdruck aus der Biologie auszuleihen: er war eine  einmalige  Mutation.

 

Aber der einzigartige Hitler wäre nicht eine historische Gestalt geworden, wenn er nicht in Deutschland  auf einzigartige  Umstände gestoßen wäre.

  

ÜBER DAS Deutschland am Ende  der Weimarer Republik sind auch viele Bücher geschrieben worden. Was veranlasste das deutsche Volk, den Nationalsozialismus anzunehmen? Historische Gründe, die in der schrecklichen Katastrophe des Dreißigjährigen Krieges oder in früheren Ereignissen wurzelten? Das Gefühl der Erniedrigung nach dem Ersten Weltkrieg? Der Zorn auf die Sieger, die Deutschland in den Staub zwangen und ihm riesige Entschädigungszahlungen auferlegten? Die schreckliche Inflation von 1923, die die Ersparnisse ganzer Bevölkerungsschichten vernichtete? Die große Depression von 1929, die Millionen von ehrbaren und fleißigen Deutschen auf die Straße warf und arbeitslos machte?

 

Auch diese Frage hat keine befriedigende Antwort gefunden. Andere Völker waren auch gedemütigt worden. Andere Völker haben auch Kriege verloren. Die große Depression hat Dutzende von Ländern  getroffen. In den USA, in Großbritannien waren auch Millionen entlassen worden. Warum hat der Faschismus (abgesehen von Italien natürlich)  in jenen Ländern  nicht Fuß fassen können?

 

Meiner Meinung nach hat sich der fatale Funken in einem schicksalhaften Moment entzündet, als ein Volk für den Faschismus bereit war und auf den Mann  mit den Eigenschaften eines faschistischen Führers traf.

 

Was wäre wohl geschehen, wenn Hitler bei einem Verkehrsunfall im Herbst 1932 ums Leben gekommen wäre? Vielleicht wäre dann ein anderer Nazi-Führer an die Macht gekommen – aber der Holocaust  wäre nicht geschehen und auch  der 2. Weltkrieg wäre wahrscheinlich nicht ausgebrochen. Seine möglichen Nachfolger  - Gregor Strasser, der die Nummer zwei war oder Hermann Göring, der  morphiumsüchtige Kampfflieger – waren tatsächlich Nazis, aber keiner von ihnen  war ein Hitler. Ihnen fehlte das Dämonische seiner Person.

 

Und was wäre geschehen, wenn Deutschland nicht in die Tiefen der Verzweiflung  gefallen wäre? Wenn die westlichen Mächte  die Gefahr  rechtzeitig  erkannt hätten und beim Wiederaufbau der deutschen Wirtschaft geholfen und  so die Arbeitslosigkeit verringert hätten? Sie hätten den berüchtigten Versailler Vertrag, den die Siegermächte nach dem Ersten Weltkrieg auferlegt hatten, aussetzen können, und so den Deutschen erlaubt,ihre Selbstachtung wieder zu erlangen. Die deutsche Republik hätte gerettet werden können, die moralisch integren Führungspersönlichkeiten, von denen Deutschland viele hatte, hätten ihre Führungsrolle wieder gewonnen.

 

Was wäre dann wohl geschehen? Adolf Hitler, den der allgemein verehrte  Reichspräsident und Feldmarschall von Hindenburg  verächtlich  ‚den böhmischen Gefreiten’ nannte, wäre ein  kleiner Demagoge einer extremistischen Randgruppe  geblieben. Das 20. Jahrhundert hätte ziemlich anders ausgesehen. Zig Millionen Kriegsopfer und 6 Millionen Juden wären am Leben geblieben, ohne jemals zu erfahren, was hätte geschehen können.

 

Aber Hitler starb nicht frühzeitig und die Deutschen wurden nicht vor ihrem Schicksal bewahrt. In einem entscheidenden Augenblick trafen sie auf einander, ein Funke  entstand, der die Zündschnur anzündete, die zur historischen Explosion führte.

 

 

SOLCH EIN schicksalhaftes Auf-einander-Treffen ist natürlich nicht auf den Faschismus begrenzt. Es geschieht im Laufe der Geschichte  auch unter anderen Umständen und  mit anderen Personen.

Winston Churchill z.B. Sein Denkmal findet man immer wieder in der britischen Landschaft. Er wird als einer der großen britischen Führer aller Zeiten angesehen.

 

Doch bis  in die späten 30er-Jahre war Churchill ein politischer Versager. Wenige bewunderten ihn und noch weniger liebten ihn. Viele seiner Kollegen verachteten ihn aus ganzem Herzen. Er wurde als  Egomane, als arroganter Demagoge angesehen, ein unberechenbarer Säufer. Aber in einem Moment der existentiellen Gefahr fand Großbritannien in ihm sein Sprachrohr und den Führer, der ihr Schicksal in seine Hand nahm. Es schien, als wäre Churchill all die vorhergehenden 65 Jahre seines Lebens auf diesen Augenblick vorbereitet worden, und als ob Großbritannien genau auf diesen einen Mann gewartet hätte.

 

Hätte die Geschichte sich anders entwickelt, wenn Churchill  im Jahr davor an Thrombose, Lungenkrebs oder  Leberzirrhose gestorben und Neville Chamberlain an der Macht  geblieben wäre ? Wir wissen heute, dass er und seine Kollegen, einschließlich des einflussreichen Außenministers Lord Halifax ernsthaft erwogen hatten, Hitlers Friedensangebot von 1940 anzunehmen, das auf einer Teilung der Welt zwischen  dem deutschen und britischen Empire gegründet war.

 

Oder Lenin. Wenn der kaiserliche deutsche Generalstab nicht den berühmten versiegelten Bahnwaggon  von Zürich nach Schweden für ihn zur Verfügung gestellt hätte und  er  von dort  nicht nach Sankt Petersburg  weiter gereist wäre, wäre dann die bolschewistische Revolution, die das Gesicht des 20. Jahrhunderts veränderte, überhaupt ausgebrochen? Trotzki war allerdings schon vorher in der Stadt und Stalin auch. Aber keiner von beiden war ein Lenin, und ohne Lenin würde sie wahrscheinlich nicht stattgefunden haben und sicher nicht in der  Weise, wie sie dann geschah.

 

Vielleicht sollte man dieser Liste noch Barack Obama hinzufügen. Eine sehr spezielle Person von einzigartiger Herkunft und einzigartigem Charakter, der  ein schicksalhaftes Zusammentreffen mit dem amerikanischen Volk in einem bedeutsamen Moment  seiner Geschichte hat, als es  gleich zwei Krisen  durchzustehen hat – die wirtschaftliche und die politische – die ihre Schatten auf die ganze Welt werfen.

 

 

ZURÜCK ZU UNS. Nähert sich der Staat Israel einer  existentiellen Krise – moralisch, politisch, wirtschaftlich – die es in eine gefährdete Nation verwandelt? Kann Lieberman oder jemand, der seinen Platz einnimmt, zu einer dämonischen  Gestalt wie Hitler werden oder  zumindest wie Mussolini?

 

In unserer nationalen Situation gibt es einige gefährliche Hinweise. Der letzte  Krieg  zeigte eine weitere Abnahme unserer moralischen Maßstäbe. Der Hass gegen Israels arabische Minderheit  wächst. Und so wächst auch der Hass gegen das besetzte palästinensische Volk, das unter langsamer Strangulierung leidet. In einigen Kreisen wächst die Verehrung  brutaler Gewalt. Das demokratische Regime befindet sich in einer nicht endenden Krise. Die wirtschaftliche Situation könnte  ins Chaos führen, sodass die Massen nach einem ‚starken Mann’ verlangen. Und der Glaube, dass wir das ‚auserwählte Volk’ sind, ist bereits tief verwurzelt.

 

Diese Anzeichen müssen nicht notwendigerweise zu einer Katastrophe führen. Absolut nicht. Die Geschichte ist voller Nationen in Krisen, die sich erholt haben und zur Normalität zurückfanden. Abgesehen von Hitler, der zu historischen Höhen gelangte, gab es wahrscheinlich Hunderte von anderen Hitlern, nicht weniger wahnsinnig und nicht weniger talentiert, die  ihr Leben als Bankkassierer oder frustrierte Schreiberlinge endeten, weil sie  nicht die entsprechende historische Gelegenheit hatten.

 

Ich habe ein starkes Vertrauen in die Stabilität der israelischen  Gesellschaft und in die israelische Demokratie. Ich bin davon überzeugt, dass sie verborgene Stärken hat, die in  der Stunde der Not  zum Vorschein kommen.

 

Nichts ‚muss’ geschehen. Aber alles ‚kann’ geschehen. Und das rote Lämpchen  wird nicht aufhören zu blinken.

 

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs und Christoph Glanz, vom Verfasser autorisiert)

 

 

 

 

Sprechende Hände

 Mahnwache, mitorganisiert von Amna Knanna
Text: Lydia Aysenberg

 

In einem stickig grauen Sandsturm stehen hunderte Juden und Araber eine Stunde lang schweigend und Hand in Hand als Spalier an der Kurve der Route 65 – Wadi Ara – einer der verkehrsreichsten israelischen Autostraßen.

Die enge antike Durchgangsstraße, die sich zwischen der Bergkette Amir Mountain und den Menashe Hills  von der Stadt Hadera landeinwärts  windet, hat in der Vergangenheit ihren rechten Anteil am Körperkontakt der anderen Art zwischen Juden und Arabern gehabt, besonders im Jahr 2000 als Folge der zweiten Intifada (palästinensische Volkserhebung).

Im  vorwiegend muslimisch arabischen Gebiet von Wadi Ara (auf arabisch) - Nachal Irron (auf hebräisch), auch das „Kleine Dreieck“ genannt – hat eine Anzahl von Friedensaktivisten, Mitglieder von sowohl palästinensischen wie auch jüdischen Nichtregierungsorganisationen zur Verbesserung nachbarschaftlicher Beziehungen zwischen den lokalen Gemeinden mit Erfolg hunderte Israelis dazu gebracht, gemeinsam an drei Wochenenden hinter einander an der Kurve der Route 65 Spalier zu stehen.

Die einzige Spruchtafel, die sie hochhalten, sagt alles: VERBUNDEN IN SCHMERZ UND HOFFNUNG, in hebräischer und in arabischer Sprache.  

Vorüber fahrende Kraftfahrer zeigen ihre Anteilnahme durch lautes Hupen oder durch Lichtsignale. Wenige, aber wirklich ganz wenige „deuten mit dem Finger“ während der 60 Minuten dauernden schweigenden Mahnwache, während der Männer, Frauen, Teenager und kleine Kinder an beiden Seiten der Durchgangstraße Spalier stehen, an der wichtigsten Einfallstraße nach Kfar Kara,  einem der größten arabischen Dörfer in der Gegend.

In Kfar Kara gibt es auch die zweisprachige jüdisch-arabische Schule, „Bridge Over the Wadi“ der Organisation „Hand in Hand“. Es gibt neuerdings vier solche Schulen, zwei davon in Jerusalem und eine in Misgav in Galiläa. „Bridge Over the Wadi“  ist allerdings die einzige, die sich in einem arabischen Dorf befindet.

 

Unter diesen Menschen, die für den Frieden standen, war auch Anna Sekuleg aus Auroville in Indien. Ursprünglich aus Holland, hat Anna mit ihrem verstorbenen Ehemann, einem Israeli, jahrelang in Auroville gelebt, einer internationalen Kommune, die 1968 in Südindien gegründet wurde. Anna begleitete jüdische und palästinensische Freunde bei deren schweigender Mahnwache für Wadi Ara, während sie Familienbesuche in Israel absolvierte.

„Für mich ist das eine Möglichkeit, meine Unterstützung für sowohl meine jüdischen wie auch meine palästinensischen Freunde hier in diesem Land zum Ausdruck zu bringen“, erklärte Anna, die Workshops für Konfliktlösung organisiert.

Hand in Hand mit Anna stand Liora Grossman aus der nahen Stadt Karkur. Die Frauen hatten einander nie vorher getroffen. Die Kinderbuch-Illustratorin Liora Grossman nahm zum ersten Mal an der Wadi Ara Mahnwache teil. „Ich fühlte die Notwendigkeit, etwas zu tun“, erklärte sie ihre Anwesenheit.

„Ich bin links, ja, aber nicht so links“, sagte sie „und ich habe das Gefühl, wir haben von den Medien hier in Israel auch nicht die ganze Wahrheit gesagt bekommen. Ich stehe hier für den gleichberechtigten Lebensraum mit unseren palästinensischen Nachbarn – Ich möchte ihre Rechte und unsere gleichzeitig verteidigen – Wenn es nach mir ginge, gäbe es keine Grenzen“.

 

Anna Knanna ist eine muslimisch arabische Einwohnerin von Kfar Kara, und eine der ersten OrganisatorInnen der Mahnwache.

„Hier in diesem Gebiet gibt es viele jüdische und palästinensische Leute, die enge Verbindungen durch die Arbeit und ihr soziales Umfeld haben; das hat sich über die vielen Jahre so ergeben, und wir schätzen diese Verbindungen sehr. Wir wollten die anderen einladen, an diesem Ausdruck der Solidarität mit zu machen, begleitet von dem Wunsch, weiter an den soliden Beziehungen zu bauen, anstatt im Gegenteil Flammen des Hasses anzufachen“, erklärte Amna, die Gründerin der Frauengruppe „Awareness for you“ (Aufmerksamkeit für dich) in Kfar Kara, mit der sie Kurse über bessere Lebensqualität für das lokale arabische Frauenvolk durchführt.

 

Wegen der durch den Sandsturm dicken Luft, die das meiste Land zudeckt (ein Sturm, von dem der Wetterwart behauptet, er käme von der Libyschen Wüste) hatten Amna und ihre Mit-kämpferInnen Zweifel gehabt, ob die Leute wohl zu der Mahnwache kämen. „Schau auf diesen Auflauf bei diesem Sauwetter“, rief sie  und breitete ihre Arme aus, sodass sie (symbolisch) von einer Straßenseite zur anderen reichten: Menschen jeden Alters, verschiedener Religionen und Lebenswege aufgereiht an den Seiten der Landstraße!

Die öffentliche Bushaltestelle neben den Verkehrsampeln von Kfara Kara hatten Juden und Araber und jugendliche BesucherInnen aus Übersee, die vor einigen Jahren zu einem gemeinsamen Sommerlager gekommen waren, „dekoriert“.  Das Thema ist noch zu lesen, auch wenn es etwas verblasst ist. Die Jugend hatte in vier oder fünf verschiedenen Sprachen ihren Friedensabdruck an der Route 65 hinterlassen.

FRIEDEN

(Übers.: Gerhilde Merz)

 


 

 

 

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