Hamas
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Politiker und Medien stellen die Hamas als unbelehrbare
Terrororganisation dar, die die Vernichtung Israels mit allen
verfügbaren Gewaltmitteln betreibt. Begründet wird dies mit der
Charta aus der Gründungszeit der Hamas (1988) und mit den
beobachteten ständigen Angriffen auf Israel durch
Selbstmordattentäter und zusätzlich seit Jahren mit Raketen. Wir
stellen dar, dass der Rückgriff auf die Hamas-Charta völlig die
Entwicklung der Hamas in den letzten 10 Jahren ignoriert, eine
Entwicklung von einer Widerstands- und Aktionsgruppe zu einer
politischen, sich des Instrumentariums der Demokratie bedienenden
Partei. Wir zeigen, dass das Wahlprogramm der Hamas von 2005/2006
ein völlig anderes Bild der Hamas zeigt als die Charta, wobei der
politische Fehler der Hamas darin besteht, die belastenden
Formulierungen der Charta noch nicht formal aufgehoben zu haben.
Hamas ist eine politische Kraft, die einen großen Teil der
Palästinenser im Gaza-Streifen und im Westjordanland hinter sich
weiß. Hamas basiert auf den Prinzipien des Islam, also z.B. auf den
Werten der Verantwortung für den Schwachen, der tätigen
Nächstenliebe, der Toleranz. Hamas ist auch eine
Befreiungsbewegung, die im Grenzfall auch zu dem Mittel der Gewalt
greift. Hamas hat die vielen verheerenden Angriffe durch die IDF,
Angriffe bei denen ein großer Teil der Führungselite der Hamas durch
die israelischen Streitkräfte liquidiert wurden, mit bemerkenswertem
Gleichmut und mit begrenzter Gegengewalt quittiert. Hamas hat seit
Jahren immer wieder längerfristige Waffenruhen angeboten und
mehrfach auch einseitig in Kraft gesetzt.
Der Begriff ?Terrororganisation ist ein politischer Kampfbegriff,
der geeignet ist, missliebige Gruppen von jeglicher inhaltlicher
Wahrnehmung durch die Bürger auszuschließen und dazu beizutragen,
diese Gruppen als Schmuddelkinder zu isolieren und als illegal und
kriminell abzuwerten. ?Terror ist immer die Gewaltausübung durch
die Anderen, die eigne Gewalt ist immer legitim als Form der
Verteidigung.
Für Israel ist Hamas die derzeitige Projektionsfläche von
Bedrohungsszenarien. Vor Jahren war dies die PLO, dann die Fatah.
Hamas passt gut in das Propagandabild antiislamischer Ideologen,
alte Kampftexte aus frühen Hamas-Veröffentlichungen (Flugblätter,
Charta) lassen in ihrer antizionistischen Rhetorik beim vorgepolten
Leser in Israel und im ?Westen� Gänsehaut entstehen: wieder sind die
Juden die Verfolgten?
Mit Hamas grenzen unsere Politiker die Hälfte der Palästinenser aus
jeglichen Entscheidungsprozessen aus. Es ist zutiefst
undemokratisch, Hamas zu isolieren mit dem Vorwand, sie seien
?terroristisch, ?gewalttätig, ?islamistisch.
Kurzer Abriss von Hintergrund und Geschichte
Hierbei gründen wir uns auf Helga Baumgarten: Hamas / Der
politische Islam in Palästina; München 2006
Die
Muslimbruderschaft
Die
Hamas erwuchs aus dem palästinensischen Zweig der 1928 in Ägypten im
Widerstand gegen den britischen Kolonialismus und die dem Land
dadurch aufgezwungene Verwestlichung: ?Wir haben genug von diesem
Leben, das nur aus Demütigungen und Beschränkungen besteht. Wir
sehen, dass Araber und Muslime weder Status noch Ehre haben. Sie
sind einfach nur Tagelöhner im Besitz der Ausländer.� Die
Muslimbrüder propagieren eine Rückbesinnung auf die einheimische
Kultur, Religion und Philosophie, wie sie im Islam repräsentiert
sind.
Palästina ist schon frühzeitig für die Muslimbrüder Schwerpunkt des
Kampfes gegen die Anmaßungen der Britischen Mandatsherrschaft. Der
landesweite Aufstand in Palästina, 1936, gegen die britische
Mandatsherrschaft und die sich intensivierende jüdische Einwanderung
nach Palästina gibt den Muslimbrüdern die erste Möglichkeit zu einer
konkreten Unterstützung der Palästinenser.
Bei
den Palästinensern standen die Muslimbrüder wegen ihres Einsatzes
für Palästina in hohem Ansehen. Von der Staatsgründung Israels 1948
bis zur Besetzung von Gazastreifen und Westjordanland im Krieg 1967
ging der Einfluss der Muslimbrüder unter den Palästinensern zurück,
weil sie sich nicht im bewaffneten Kampf gegen Israel engagierten
sondern sich der Erziehung einer neuen Generation von Palästinensern
für den Widerstand widmeten.
Die erste Intifada
und die Gründung der Hamas
Nach
der Besetzung Rest-Palästinas durch Israel widmeten sich die
Muslimbrüder vorwiegend der Verbreitung des Islam. Sie bauten eine
Vielzahl neuer Moscheen, mit dem Ziel ?den Glauben einer neuen
Generation zu mobilisieren und zu vereinen, umzuorientieren und zu
konsolidieren als Vorbereitung auf die Konfrontation mit dem
Zionismus�. Israel finanzierte einen Teil dieser Aktivitäten, bei
denen neben den Moscheen auch Kindergärten, Jugendzentren mit
Sportclubs, Polikliniken, Frauenzentren, Nachbarschaftsbibliotheken
errichtet wurden, aber auch die Islamische Universität von Gaza.
Die
immer härter werdende Situation der Besatzung durch Israel, die
Abwanderung eines Teils der Jugendlichen in militantere, im
Widerstand aktivere Organisationen wie den Dschihad al-islami
veranlasste die Muslimbrüder, 1985 ihre Mitglieder zur Teilnahme am
aktiven Widerstand aufzurufen.
Im
Dezember 1987 wurde nach einem Zwischenfall, bei dem es mehrere
palästinensische Tote gegeben hatte und den darauf folgenden
Massendemonstrationen die Hamas gegründet. Hamas, ein Akronym aus
harakat al-muqawama al-islamiya
(= Bewegung des islamischen Widerstandes), das (mit einem langen
zweiten a) ?Eifer� bedeutet. Diese neue Bewegung reklamierte für
sich, 1987 den Aufstand gegen die Besatzung, die Intifada, begonnen
zu haben.
Die Charta vom 18.
August 1988
Dieses Dokument geht vom Ziel der Befreiung des gesamten Palästina
aus. Jegliches Aufgeben auch nur eines Teils von Palästina wird als
Akt des Ungehorsams gegen den Islam verdammt.
Die
Charta entstand in einer Zeit, da Hamas, die bei vielen
Palästinensern noch suspekt war wegen ihrer kooperativen Haltung zu
Israel, sich neu positionieren und als Teil des palästinensischen
Widerstandes darstellen musste. Dies erklärt einen Teil der
Anti-Zionismus-Rhetorik der Charta. Sie entstand in einer Zeit, in
der das Leben der Palästinenser unter der Besatzung unerträglich
geworden war: Inhaftierungen, Landenteignungen, Rabins ?Politik der
Eisernen Faust� ?
Sie
ist aber auch ein Dokument der Toleranz mit jenen, die sich nicht
gegen Hamas und ihre Ziele stellen, auch den Angehörigen anderer
Religionen (s. Viertes Kapitel, Punkt f.). Die Charta hat offenbar
das Ziel, möglichst alle Muslime hinter der Hamas zu vereinen.
Insofern ist es ein Dokument des Kampfes und der Propaganda und muss
als solches auf seine Umsetzung überprüft werden.
Die
Verwendung von Auszügen aus der Charta als Beweise der
antizionistischen Militanz der Hamas ist eher peinlich für den
Zitierenden, wenn man sich die Mühe macht, die Zitate in den
Zusammenhang zu stellen, aus dem sie gerissen wurden, um sie schön
gruselig klingen zu lassen. Ein Beispiel ist das Zitat, mit dem
Eckart von Klaeden (CDU) in seiner
Rede
am 14.1.09 im Bundestag
belegen zu können glaubte, dass mit der Hamas nicht geredet werden
kann (die Alternative dazu ist ja wohl der totale Vernichtungskrieg,
wie ihn Israel versucht hat?). Klaeden zitiert aus Artikel 7 der
Charta einen sehr blumigen Text, in dem angeblich zur Vernichtung
der Juden aufgerufen wird. Klaeden unterschlägt beim Zitieren, dass
der zitierte Text seinerseits schon in der Charta als Zitat auftritt
aus einer alten islamischen Quelle, so dass er mit Sicherheit nicht
wörtlich zu lesen ist sondern als eine Unterstreichung des Themas
von Artikel 7, der sich mit dem ?Weltweiten Charakter der
Islamischen Widerstandsbewegung� befasst. Sollte es ein Ziel der
Hamas beschreiben, so wäre es im Zweiten Kapitel ZIELE aufgetaucht
und nicht im Ersten Kapitel:
Die Definition der Bewegung. Liegt dieser Mangel in der Rede
von Eckart von Klaeden vielleicht daran, dass er gar nicht die
Charta gelesen hat sondern einen Text über die Charta, z.B. aus der
zionistischen Web-Site
www.haGalil.com
, dort finden sich jedenfalls alle Horror-Texte, die immer aus dem
Zusammenhang gerissen zitiert werden (http://www.hagalil.com/archiv/2003/08/hamas.htm).
Offenbar ist die Charta heute weniger ein Positionspapier der Hamas
als ein Kampfmittel der Anti-Hamas-Polemik.
Positionen der Hamas heute
Die
gegenwärtigen Positionen der Hamas lassen sich am besten am
Wahlprogramm der Hamas für die Wahlen zum Palästinensischen
Legislativrat 2006 ablesen. (s. dazu auch das
DLF-Interview von Helga Baumgarten am 10.1.09, 8:13h).
Gerade die offenkundige Abkehr von der Rhetorik der Charta, die von
der Entschlossenheit zeugte, ganz Palästina zu befreien hin zu einer
Bescheidung der Palästinenser mit dem nach 1949 verbliebenen
Rest-Palästina, die diesem Programm offenbar zugrunde liegt, zeigt
eine Entwicklung der Hamas von einer antizionistischen
Kampforganisation hin zu einer politischen Gruppe, die die reale
Existenz Israels akzeptiert und auf dieser Basis ein Optimum für
Palästina erreichen will. (Dem widerspricht unseres Erachtens nicht,
dass unter Thema 1, Punkt 1. von ?ganz Palästina� die Rede ist, denn
unter Punkt 3 ist beschreiben, wie der Weg zur Errichtung eines
unabhängigen palästinensischen Staates in den durch den
Waffenstillstand von 1949 gezogenen Grenzen zu gehen ist.
Wichtig ist die de facto Akzeptierung des ?zionistischen Gebildes�,
also Israels, als existent, und die Anerkennung der Grenzen Israels
(Grenzen von 1967) durch die Definition des Zieles, einen eigenen
palästinensischen Staat im gesamten Gebiet der Westbank und im
Gaza-Streifen zu errichten mit der Hauptstadt Jerusalem. Die
Anerkennung Israels ist zwar nicht förmlich ausgesprochen, doch ohne
die Existenz Israels machen Forderungen keinen Sinn wie z.B. die,
der zu gründende palästinensische Staat müsse ein ?vom zionistischen
Gebilde unabhängiges palästinensisches Wirtschaftssystem� aufbauen.
Ist
die Hamas eine Terrororganisation?
Erklärtes Ziel der Hamas ist die Befreiung Palästinas von der
Besatzung durch Israel. Unzweifelhaft hat die Hamas immer wieder
Gewalttaten begangen. Das stellt sie in eine Reihe mit anderen
Befreiungsbewegungen, so mit Widerstandsgruppen, die im 2. Weltkrieg
gegen die deutsche Besatzung gekämpft haben, so mit vielen Gruppen
und Organisationen, die sich gegen Unterdrückung und Fremdherrschaft
erhoben haben und noch erheben. Wir lehnen Gewalt als Mittel der
Durchsetzung von politischen Zielen ab, Gewalt in jeder Form, sei es
durch Staaten oder durch nicht-staatliche Gruppen. Wir haben
dennoch ein großes Mitgefühl für diejenigen, die in ihrer Situation
als Unterdrückte keinen Ausweg sehen, als den der Gewaltanwendung,
um sich vor der Gewalt der Unterdrückung zu schützen. Wir sehen bei
uns eine große Mitverantwortung dafür, dass diese Menschen in der
Situation sind, die sie zu Gewalt greifen lässt: Deutschland lässt
es zu, dass Staaten unterdrückerisch handeln, es führt nicht nur
Handel und hat sonstige Kontakte mit solchen Staaten, es unterstützt
sogar aktiv rhetorisch und materiell die aggressiven Handlungen
solcher Staaten gegen ihre Bürger oder gegen die von ihnen
Beherrschten.
Der
Begriff ?Terrororganisation� ist ein Propagandabegriff, der jegliche
Diskussion über die Ziele von Hamas unmöglich machen und jegliche
Parteinahme für diese Ziele und für diese Organisation
kriminalisieren soll. Er wurde der Hamas im Juni 1989 durch Israel
angehängt mit der Folge, dass nicht nur gewalttätige Handlungen von
Hamas sondern schon die bloße Mitgliedschaft in dieser Organisation
unter Strafe gestellt wurden. Schon Gespräche mit
Hamas-Organisationen oder �Mitgliedern, ja, sogar mit Personen,
denen eine Sympathie mit Hamas nachgesagt wurde, wurden allen
Mitarbeitern der israelischen Behörden untersagt und unter Strafe
gestellt. [Baumgarten p.79]
Die
Einstufung als Terrororganisation durch die deutschen Behörden
erfolgte zügig, in Abstimmung mit den übrigen EU-Staaten und den
USA. Die Konsequenz ist, dass kein Hamas-Mitglied eine Einreise
nach Deutschland erhält, so dass z.B. keine Teilnahme an
wissenschaftlichen oder politischen Informationsveranstaltungen
möglich ist. Hierdurch werden wir Bürger der Bundesrepublik unserer
Möglichkeiten beraubt, uns frei zu informieren, eine Beschränkung
unserer Grundrechte.
Die
Eigenschaft der Hamas, Terrororganisation zu sein, ist inzwischen
durch Medien und Äußerungen von Politikern (z.B. bei der
Bundestagsdebatte vom 14.1.09)
so im öffentlichen Bewusstsein gefestigt, dass es fast unmöglich
erscheint, dies als propagandistische Unterstellung zu
charakterisieren. Dennoch: die Hamas ist nicht terroristischer als
es andere Befreiungsbewegungen waren und sind.
Kann
man mit der Hamas reden?
Man
kann nicht nur, man muss, wenn man für die Situation
in Palästina einen Fortschritt zu Gerechtigkeit und Frieden will.
Unter den noch überlebenden Mitgliedern der Hamas-Führung sind sehr
kluge, nachdenkliche Leute, wie man aus den im Internet zugänglichen
Reden und sonstigen Äußerungen von Menschen wie Haniyeh schließen
kann.
Die
Festlegungen der Hamas in ihrem Wahlprogramm können als Startpunkt
für Gespräche dienen.
Wenn
Israel weiter auf Gesprächsverweigerung und auf Gewalt und
Ausrottung gegenüber der Hamas setzt, macht es jegliche Zukunft für
Israel in der Region unmöglich. Wir Europäer, insbesondere wir
Deutschen haben die Pflicht, jegliche Gesprächsmöglichkeit
auszuloten und dafür zu sorgen, dass Hamas eingebunden wird in die
politischen Prozesse in Nahost.
Eine
aufbereitete Version dieses Textes mit detaillierten Quellenangaben
und Links auf verwandte Dokumente findet sich ab 26.1.09 in
www.palaestina-heute.de
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