"Wenn das Meer nicht wäre"
Vera Macht
„Wie hast du deinen Urlaub verbracht?“,
ist hier in Gaza eine etwas taktlose Frage. Wie soll man ihn
schon verbracht haben, hier auf den 40 mal fünf Kilometern,
in denen eineinhalb Millionen Menschen auf dem
dichtbesiedelsten Landstrich dieser Erde eingepfercht sind,
ohne jegliche Möglichkeit diesen zu verlassen. Hier gibt es
kaum eine Möglichkeit, seinen Urlaub zu verbringen. Urlaub
ist daher eins der rarsten Gesprächsthemen in Gaza.
Glücklich ist, wer überhaupt welchen hat, denn das bedeutet,
dass man Arbeit hat, die genauso rar ist, bei einer
Arbeitslosigkeit, die seit der Blockade des Gazastreifens
bei 45% liegt.
Wenn man also Urlaub hat, theoretisch,
ist man nicht unbedingt erpicht
darauf, sich diesen auch zu nehmen. Wo soll man denn auch
hin? Den Streifen verlassen kann
man sowieso nicht, und hier in Gaza gibt es keinen Ort, der
nicht überfüllt ist mit Menschen, mit Dreck und Lärm. Dass
man das Thema Urlaub besser nicht erwähnt,
lernt man schnell, hier in Gaza.
Aber Gaza liegt am Meer. Und wenn das
Meer nicht wäre, gäbe es keinen Ort, an den man an einem
freien Tag oder einem Sommerabend
mit seiner Familie oder Freunden gehen
könnte. Aber da es das Meer gibt, kann man einen
Picknickkorb packen, den Grill, im Sommer die Badesachen,
und man kann sich einen Moment vorstellen, das Leben wäre
normal und frei,
ohne täglichen Terror, und man verbringt
einen Tag am Meer, als ob man alle Möglichkeiten hätte.
Man sollte sich jedoch keine Illusionen
darüber machen, dass der Strand des Gazastreifens ein
schöner Ort wäre. Knapp 40 Kilometer Strand hat Gaza, wo
eineinhalb Millionen Menschen eingesperrt leben. Und sie
alle beschließen, von Zeit zu Zeit, so zu tun als ob sie
frei wären, alle Möglichkeiten hätten und nichts lieber tun
würden, als einen Tag am Strand zu verbringen, mit ihrer
Familie oder ihren Freunden, und grillen, vielleicht. Oder
sich an einem Winternachmittag in warme Jacken zu hüllen,
sich von Wellen und Seeluft umgeben lassen, um dem Lärm der
Generatoren zu entfliehen.
Der Strand ist somit, wie der Rest von
Gaza, überfüllt. Er ist dreckig und er ist laut. Auch ins
Wasser geht man lieber nicht hinein, da die nötigen Dinge,
die man für Kläranlagen braucht, von Israel zu möglichen
Terrorobjekten erklärt wurden, und deren Einfuhr deshalb
verboten ist. Millionen von Litern Abwasser fließen deshalb
täglich in Gazas Meer. Aber da ist das Meer. Wenn das Meer
nicht wäre.
Man sollte sich auch keine Illusionen
darüber machen, dass die Menschen Gazas am Strand sicher
wären, dass ihr Leben dort weniger in Gefahr wäre als an
jedem anderen Ort des Gazastreifens, zu jedem anderen
Zeitpunkt.
Im Jahre 2006 verbrachte die 11jährige
Huda Ghalia mit ihrer Familie einen Nachmittag in der
vermeintlichen Idylle, bei einem Picknick. Wofür auch immer
diese Familie mit einer Decke voller Essen und spielenden
Kindern von israelischen Soldaten gehalten wurde, der Strand
wurde von einem Kriegsschiff mit acht Artilleriekugeln
getroffen, die nahe der Familie explodierten.
Huda Ghalia war die
einzige Überlebende , alle anderen neun Familienmitglieder
starben, mehr als 30 weitere Menschen in der Nähe wurden
verletzt. Eines
der schlimmsten Verbrechen, das an
Gaza´s Strand jemals verübt wurde,
aber bestimmt nicht das einzige.
All dies hat man durchaus im Hinterkopf,
wenn man dort sitzt, die Füße im Sand.
Aber sicher ist man in Gaza nirgendwo,
und somit hält das die Menschen bestimmt nicht davon ab, zum
Meer zu gehen und zu versuchen den Terror zu vergessen, für
einen Tag oder zumindest ein paar Stunden.
Was das Meer Gaza´s so bedeutend macht,
ist nicht wirklich die Tatsache, dass es die einzige
Möglichkeit zur Erholung bietet. Das Meer Gaza´s ist die
einzige Möglichkeit, die die Menschen
zum Träumen haben. Das weiß jeder,
der schon einmal abends dort am Strand saß, die Sonne
blutrot im Wasser untergehen sah und
auf einmal wieder wusste, dass es Schönheit gibt auf dieser
Welt.
Wenn man dort sitzt, und aufs Meer
hinausblickt, und die kleinen hölzernen Fischerboote nahe am
Strand sieht und weiter draußen Lichter auf dem Meer, dann
denkt man nicht daran, dass diese Lichter von israelischen
Kriegsschiffen
stammen. Dann denkt
man nicht daran, dass man diese kleinen Fischerboote deshalb
so gut sieht, weil sie nicht weiter hinausfahren können,
ohne in Gefahr zu geraten, von den Soldaten auf den
israelischen Kriegsschiffen
erschossen zu werden, und dass sie nicht näher zum Strand
kommen können, ohne ihren Lebensunterhalt vollends zu
verlieren. Man denkt nicht an das bilaterale Oslo-Abkommen,
bei dem den Fischern Gazas 20 Seemeilen zugesprochen wurden,
die später unilateral erst
auf 6 und dann auf drei Seemeilen beschränkt wurden. Man
denkt nicht an die Familie, die man besucht hat und deren
19jähriger Sohn in einer Entfernung von 2,5 Seemeilen beim
Fischen erschossen wurde. Nicht an die Fälle der letzten
Zeit, bei denen Fischer auf dem Meer entführt wurden und in
Handschellen auf dem nassen Boden ihres Bootes liegend in
israelische Gefängnisse zum Verhör gebracht wurden. Dort
sollten sie auf Fotos, die detailgetreu von Drohnen
aufgenommen worden waren, ihr
Haus zeigen und den Hafen beschreiben. Nach Tagen wurden sie
zurück geschickt ohne ihr Boot und somit ohne Zukunft. Aber
daran denkt man in diesem Moment nicht.
Nein, man sitzt am Strand und sieht der
blutroten Sonne zu, wie sie im Meer untergeht, und grüßt die
in der Nähe stehenden Fischer, die man schon kennt. Die
Fischer, die ihre Netze am Ufer ausgeworfen haben, oder die
mit einer Angelrute dort stehen. Man freut sich mit ihnen,
wenn sie etwas gefangen haben, denn das kommt nicht oft vor,
und nun hat die Familie etwas zum Essen. Man hofft
vielleicht, dass man sie nicht im Krankenhaus wieder sieht,
nachdem ihnen
von israelischen Soldaten ins Bein geschossen wurde, weil
sie zu nah an der Grenze standen.
Aber eigentlich ist es viel zu schön, nur
dort zu sitzen und ihnen zuzuschauen, wie sie ihre Netze
auswerfen in der Abenddämmerung, während man den selbst im
Winter leicht warmen Sand unter seinen Füßen spürt.
Warum das Meer so besonders ist, hier in
Gaza, liegt vielleicht
noch nicht einmal daran, dass man, wenn
man dort sitzt und den brechenden Wellen zusieht,
an die Schönheit
dieser Welt erinnert wird. Das Besondere an Gazas Meer ist,
dass man den Horizont sehen kann. Den Horizont, der einen an
das Gefühl von Freiheit erinnert, das man hier schon fast
vergessen hat. Das die jungen Menschen Gazas gar nicht mehr
zu hoffen wagen jemals zu haben, weil sie es nie gekannt
haben.
Dort am Meer sieht man keine Grenzen,
keine Mauern und keine Schießtürme, wie in jeder anderen
Himmelsrichtung, sondern nur unendliche Weite. Man hat das
Gefühl, endlich wieder atmen zu können, anstatt in der Enge
und Überfülltheit langsam zu ersticken, und sieht, dass die
Welt mehr ist als ein kleiner Streifen von Terror, Gewalt
und Angst. Nein, wenn man dort sitzt und den Horizont sieht,
dann fängt man wieder an, von Freiheit zu träumen. Dann kann
man sich vorstellen, wie ein Vogel über dieses unendliche
Wasser zu fliegen, zu fernen Ländern die man vielleicht nie
sehen können wird, aber man kann daran glauben, in diesem
Moment.
Dass die Menschen Gazas noch träumen
können, zeigt dieser wunderschöne Text einer jungen
Palästinenserin, zu finden unter
http://fidaa.me/?p=136
Vera Macht
lebt und arbeitet seit April 2010 in Gaza.
Sie ist Friedensaktivistin und berichtet über den täglichen
Überlebenskampf der Menschen im Gazastreifen (Vera.Macht@uni-jena.de)