Samah Jabr, 28. Mai 2007
Übersetzt von Isolda Bohler, überprüft von
Eva-Luise Hirschmugl
Samah Jabr, Schriftstellerin und
palästinensische Psychiaterin, gehört der Gruppe
Palästinensische Psychiatrie an und lebt in
Ostjerusalem (Palästina, besetzt). 1999 und 2000
war sie Kolumnistin von The Palestine Report,
ihre Kolumne hiess „Fingerabdrücke“. Seit der
Intifada arbeitet sie regelmässig im Washington
Report on Middle East Affairs und Palestine
Times of London mit. Ihre Artikel werden in
zahlreichen Publikationen veröffentlicht.
Ahmad, ein 46-jähriger Mann aus Ramala, fühlte
sich bis zu seiner letzten Verhaftung wohl. Aber
dieses Mal konnte er das lange Gefangensein in
einer winzigen Zelle, in der er weder etwas
sehen noch hören konnte, nicht aushalten. Zuerst
verlor er das Zeitgefühl, danach liessen ihm die
Bewegungen seiner Eingeweide keine Ruhe und er
fing an zu glauben, dass er „innerlich
künstlich“ werde. Danach entwickelte er eine
Paranoia, begann Stimmen zu hören und Leute in
seiner Isolationszelle zu sehen. Jetzt ist Ahmad
aus dem Gefängnis entlassen, aber er verharrt
gefangen in der Idee, alle Welt verfolge ihn.
Fatima verbrachte mehrere Jahre
damit, die Ärzte über eine Serie schwerwiegender
Krankheiten in Kopf und Magen, mit Schmerzen und
Hautkrankheiten einhergehend, zu konslutieren.
Es gab nichts, das auf eine organische Ursache
hingewiesen hätte. Schliesslich vertraute sich
Fatima unserer psychiatrischen Klinik an und
erzählte, alle Symptome wären erstmals
aufgetreten, als sie die offenen Schädel ihrer
während des israelisch militärischen Einfalls am
24. Oktober 2001 auf ihr Dorf Beit Rama
ermordeten Kinder auf dem Boden ihres Hauses
gesehen hatte.
Das sind Fälle, die ich in
meiner Klinik sah. Die traumatischen
Geschehnisse des Krieges waren immer ein
wichtiger Grund für psychologische Störungen. In
Palästina muss man das Wesen des Krieges
verstehen, um die psychologische Wirkung auf die
schon lange Zeit besetzte Bevölkerung wahrnehmen
zu können. Der langwierige und fortdauernde
Krieg bestimmt das gesamte Leben von mindestens
zwei Generationen. Ein ethnisch, religiös und
kulturell fremder Staat steht einer heimatlosen
Zivilbevölkerung gegenüber. Ausser der täglichen
Unterdrückung und Ausbeutung führt der Krieg
auch zu periodisch militärischen Operationen mit
normalerweise begrenzter Reichweite. Diese
Operationen provozieren manchmal Reaktionen von
palästinensischen Fraktionen oder
Einzelpersonen. Die grosse Mehrheit der
Bevölkerung wird niemals über diese Aktionen
befragt und obwohl ihre Meinung nicht zählt, ist
es eben diese Bevölkerung, die unter den
israelischen Repressalien (Präventivangriffen
oder Kollektivstrafen) leidet.
Die Verschleppten
Die Bevölkerungsfaktoren
verkomplizieren das Gesamtbild. Die Bewohner der
besetzten Gebiete stellen genau ein Drittel der
Palästinenserinnen und Palästinenser dar; der
Rest ist eine in der ganzen Region verstreute
Diaspora, viele davon befinden sich in den
Flüchtlingslagern. Fast alle palästinensischen
Familien erlitten Zwangsvertreibungen oder
schwere, schmerzhafte Trennungen. Auch im
Inneren Palästinas sind die Menschen 1948
vertriebene Flüchtlinge und gezwungen in die
Flüchtlingslager zu gehen. Diese massive
Verschleppung von 70% der Bevölkerung und die
Zerstörung von mehr als 400 ihrer Dörfer stellt
für das palästinensische Volk die „Nakba“
oder Katastrophe dar. Diese Situation bleibt
über Generationen in einem psychologischen
Traumatismus bestehen, der die kollektive
palästinensische Erinnerung markiert. Oft finden
wir junge Palästinenser, die sich selbst als
Bewohner von Städten und Dörfern vorstellen, die
ihre Grosseltern verlassen mussten. Oftmals
befinden sich diese Orte nicht einmal auf der
Landkarte, entweder weil sie vollständig
zerstört wurden, oder weil sie von Israelis
bewohnt sind.
Die Palästinenser wissen, dass
der ihnen von Israel aufgezwungene Krieg ein
nationaler Genozid ist und zu ihrer Verteidigung
bekommen sie viele Kinder. Die palästinensische
Fruchtsbarkeitsrate ist mit 5,8 die höchste der
Region. Dies führt zu einer sehr jungen
Bevölkerung (53% sind unter 17 Jahren) und eine
grosse Mehrheit dieser jungen Menschen ist in
dieser entscheidenden körperlichen und geistigen
Entwicklungsphase sehr verletzlich. Das
geografische Einsperren der Palästinenserinnen
und Palästinenser in sehr kleine Stadtteile, mit
der Trennungsmauer und dem ganzen System der
Militärkontrollposten, begünstigt die
Eheschliessung unter Blutsverwandten und als
Konsequenz die genetische Prädisposition für
Geisteskrankheiten. Die Tatsache, dass sie unter
Freunden und Nachbarn eingemauert sind, hat eine
sehr schädliche Wirkung auf den Zusammenhalt der
palästinensischen Gesellschaft.
Aber das schädlichste für das
geistige Gleichgewicht der Palästinenser ist ihr
von Gewalt geprägtes Lebensumfeld. Die
Bevölkerungsdichte, vor allem im Gazastreifen,
mit 3.823 Menschen pro Quadratkilometer, ist
stark erhöht. Die hohen Armuts- und
Arbeitslosigkeitszahlen, jeweils 67% und 40%,
untergraben jede Hoffnung und verändern die
Persönlichkeit der Menschen. Der Krieg schuf in
unserem Land eine auf 650.000 Menschen
geschätzte Gemeinde von Gefangenen und
Exgefangenen, die 20% der Bevölkerung ausmachen.
Die behinderten und kriegsversehrten Menschen
stellen 6% dar. Die jüngsten Studien enthüllten
einen beunruhigenden Grad an Blutarmut und
Unterernährung, speziell unter den jungen
Menschen und den Frauen. Die intensive
emotionelle Feindseligkeit, verursacht von den
Auseinandersetzungen mit den israelischen
Soldaten an der Tür unserer Häuser, ist ein
konstanter Stressfaktor. Viele palästinensische
Kinder leben seit ihrer Geburt mit dieser
täglichen Gewalt. Für sie ist das Getöse einer
Bombardierung vertrauter, als das Zwitschern der
Vögel.
Plötzliche Erblindung
Während meiner Ausbildung zur
Medizinerin in verschiedenen palästinensischen
Hospitälern und Kliniken sah ich Männer, die,
seit dem Verlust ihrer Arbeit in den
israelischen Sektoren, über unbestimmte,
chronische Schmerzen klagen; ich sah
Schulkinder, die nach einer schreckenerregenden
Nacht mit Bombardierungen Bettnässer sind. Ich
behalte eine Frau in meiner Erinnerung, die mit
einer jähen Erblindung in die Unfallabteilung
kam, erzeugt von der Vision ihres ermordeten
Sohnes; eine Kugel traf ihn ins Auge und trat am
Kopf hinten wieder heraus. Diese Erinnerung wird
sie ihr Leben lang verfolgen.
In Palästina werden diese Fälle
nicht als Kriegsverletzungen betrachtet und sie
werden nicht entsprechend behandelt. Aufgrund
dieser Realität spezialisierte ich mich auf
Psychiatrie, die eine der am wenigsten
entwickelte medizinischen Spezialitäten in
Palästina ist. Für eine Bevölkerung mit
3.800.000 Einwohnern sind wir fünfzehn
Psychiater und uns fehlen Fachkräfte, wie
Krankenpfleger und-pflegerinnen, Psychologinnen
und Psychologen und Sozialarbeiter. Wir haben
nur 3% des benötigten Personals. Wir haben zwei
psychiatrische Krankenhäuser, eines in Bethlehem
und ein weiteres in Gaza, doch wegen der
Kontrollposten ist es sehr schwierig dorthin zu
gelangen. Es gibt sieben psychiatrische
Arztpraxen. In Entwicklungsländern, wie dem
besetzten Palästina, ist die Psychiatrie die am
meisten vernachlässigte und ökonomisch am
schlechtesten unterstützte medizinische
Spezialität. Die Psychiater arbeiten an
hoffnungslosen Fällen und in den Augen ihrer
Gemeinden sind sie weit davon entfernt die
Lorbeeren der anderen medizinischen
Spezialisierungen zu gewinnen. Was bewirkt, dass
die kompetenten und gut ausgestatteten Gemeinen
selten die Psychatrie wählen.
Ich betrachte die Psychiatrie
als einen Beruf, der humanisiert und ehrt,
besonders weil er mir dabei hilft, mich
persönlich mit der Gewalt und den Frustrationen,
die es um mich herum gibt, auseinanderzusetzen.
Ich fahre von Ramala nach Jericho, um die
psychiatrisch Kranken zu besuchen. An einem
Arbeitstag besuche ich zwischen 40 und 60
Patientinnen und Patienten, zehnmal mehr als ich
normalerweise während meiner Ausbildung in den
Pariser Zentren sah. Ich beobachte das gestörte
Verhalten meiner Patienten, höre ihren
schrecklichen Erzählungen zu und erwidere ihnen
mit den mir zur Verfügung stehenden Medien:
einigen Worten, die ihnen dabei helfen, ihre
zerstreuten Gedanken zu ordnen; einigen Pillen,
die ihnen bei der Reorganisierung ihres Denkens
helfen können, ihre Delirien und Halluzinationen
beruhigen, oder die es ihnen erlauben, zu
schlafen oder sich auszuruhen. Aber die Worte
und die Tabletten können weder den Eltern ein
ermordetes Kind, den Kindern einen im Gefängnis
eingesperrten Vater zurückbringen, noch können
sie ein niedergewalztes Heim wieder aufbauen.
Die wahre Lösung für die
Psychiatrie in Palästina liegt in den Händen der
Politiker, nicht der Psychiater. Deshalb, bis
sie ihre Arbeit machen, fahren wir in den
Krankenberufen damit fort symptomatische
Behandlung und Therapien zu verabreichen und die
Welt für die Geschehnisse in Palästina zu
sensibilisieren.
Der Widerstand
Aktuell erleiden die
Palästinenser alle Arten des Drucks, damit sie
sich ein für alle Mal ergeben und Israel
anerkennen. Man bedrängt uns zu akzeptieren,
dass wir verzichten und die Gewalthandlungen
Israels gegen unser Leben loben. Die Tatsache,
dass unser Heimatland besetzt ist, bedeutet
nicht an sich, dass wir nicht frei sind. Wir
weisen die Besatzung in unserem Geist zurück auf
die Weise, wie wir ihr gegenübertreten können;
wir lernen trotz der Besatzung zu leben und uns
nicht anzupassen. Aber würden wir Israel
anerkennen, dann wären wir verstandesmässig
besetzt und dies, da bin ich sicher, ist mit
unserem Wohl als Individuen und als Nation
unvereinbar. Der Widerstand gegen die Besatzung
und die nationale Solidarität sind sehr wichtig
für unsere geistige Gesundheit. Sie zu leisten
kann uns vor Depression und Hoffnungslosigkeit
schützen.
Israel begeht schreckliche Taten
auf unserem Gebiet. Was uns von Palästina
bleibt, ist ein Denken, ein Gedanke, der zur
Überzeugung wurde, das Recht zu haben auf ein
freies Leben und ein Heimatland. Wenn von den
Palästinenserinnen und Palästinensern gefordert
wird, Israel anzuerkennen, fordert man von uns
in Wirklichkeit diese Gedanken aufzugeben und
auf alles, was wir hatten und was wir sind, zu
verzichten. Dies hätte zur Folge, dass wir für
immer und noch tiefer in einer kollektiven
Depression untergehen würden.
Nach einigen Jahren in Paris
fand ich bei meiner Rückkehr nach Palästina ein
müdes, hungriges, sowohl in Fraktionskämpfen als
auch durch die Trennungsmauer zerrissenes
palästinensisches Volk vor. Die Palästinenser
sind vor allem durch die inneren Kämpfe auf den
Strassen Gazas demoralisiert, die von aussen, um
das Ergebnis der demokratischen Wahlen vom
vergangenen Jahr in Frage zu stellen,
angezettelt wurden. In der Tat schicken uns die,
die jegliche ökonomische Hilfe von aussen für
Palästina blockieren, Waffen statt Brot. Sie
animieren die psychologisch und geistig
verelendeten Menschen dazu, ihre Nachbarn,
Verwandten und früheren Klassengenossen zu
töten. Obwohl die Fraktionen sich geeinigt
haben, wird die palästinensische Gesellschaft
weiterhin ein tiefes Problem unerledigter
Rechnungen unter Familien haben.
Wir werden siegen
Es ist unvermeidlich sich zu
fragen, ob die spezifische Absicht Israels in
Bezug auf die Palästinenser nicht das
absichtliche Ziel ist, eine traumatisierte,
passive, konfuse und zum Widerstand unfähige
Generation zu schaffen. Ich weiss genug über
Unterdrückung, um die Verletzungen, die nicht
bluten und deutlich die Zeichen der
vorangehenden, psychologischen Deformierung
erkennen lassen, diagnostizieren zu können. Mich
ängstigt diese Gemeinde, die sich dazu
verpflichtet fült, Leben aus dem Tod zu ziehen
und Frieden aus dem Krieg. Mich verstimmen die
jungen Leute, die ihr Leben unter unmenschlichen
Bedingungen leben und Babys, die die Augen in
eine blutige und vor Waffen tarrende Welt
öffnen. Mich erschreckt das unvermeidliche
Abstumpfen, das die chronische Aussetzung der
Gewalt hervorruft. Auch habe ich vor dieser
Rachementalität Angst, vor dem instinktiven
Wunsch, den Unterdrückern auf ewig den gleichen
Schaden zu wünschen, den sie uns antun.
Es ist notwendig, eine globale
epidemiologische Studie über die psychologischen
Ausschweifungen in Palästina zu erstellen. Und
trotz aller Veröffentlichungen über die
palästinensische Psychopathologie in
Zusammenhang mit dem Krieg, ist mein Eindruck,
dass die Geisteskrankheit weiterhin eine
Ausnahme in Palästina ist. Zu widerstehen und zu
kämpfen sind noch die Norm in unserem Volk.
Trotz aller Zerstörung der Häuser und extremer
Armut, wird man in Palästina keine auf den
Strassen schlafenden oder im Müllcontainer nach
Essen suchen Menschen, findet. Diese
Bestimmtheit gründet sich auf die familiären
Grundlagen, auf die soziale Zähigkeit und auf
eine bewusste und ideologische Überzeugung.
Schliesslich arbeiten wir auch
mit dringenden psychiatrischen Fällen. Einige
Dienste sind vorgesehen (dringende
Notwendigkeit?), damit die Menschen, die leiden
und eine Krise durchleben, sich erholen können,
und die Fähigkeit zurückerlangen, sich weiter
mit der Situation auseinanderzusetzen; das ist
entscheidend, wenn wir nicht am Ende, wenn der
Frieden kommt, ihren Zusammenbruch erleben
wollen, was in der Nachkriegsperiode häufig
geschehen ist. Es ist keine geringe Anzahl
betroffener Menschen, sondern eine ganze,
verletzte Gesellschaft, die Pflege braucht.
Unser Traumatismus ist chronisch und schwer,
aber wenn wir unser Leiden definieren und es mit
Vertrauen und Rücksicht behandeln, werden wir
triumphieren.
Aufruf
Nein zum Staatsterrorismus
Israels gegen das palästinensische und
libanesische Volk. Unterschreibe und verbreite
diese Forderung:
http://www.aloufok.net/article.php3?id_article=32·sp32
Quelle:
http://www.rebelion.org/noticia.php?id=51430
Übersetzt aus
dem Spanischen ins Deutsche von Isolda Bohler
und überprüft von Eva-Luise Hirschmugl,
Mitgliedern von
Tlaxcala
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