Von Lama aus
Gaza,
30. Juli 2006
Seit meiner
Geburt war ich Zeugin so
schrecklicher Dinge, dass ich
angenommen habe, ich habe keine
Tränen zum Weinen mehr.
Ich bin
palästinensischer Flüchtling und
1965 in Syrien geboren. Grauenhafte
Ereignisse sind passiert, seitdem
ich geboren wurde.
Der Krieg 1967.
Obwohl ich erst zwei Jahre alt war,
hat die Reaktion meiner Eltern etwas
von meiner eigenen Persönlichkeit
geformt.
Der 'Schwarze
September' 1970 in Jordanien. Ich
war fünf Jahre alt, aber ich
erinnere mich noch immer an die
besorgten Gesichter meiner Eltern.
Oktober 1973: Der
Krieg zwischen Syrien, Ägypten und
Israel. Ich erinnere mich bis zum
heutigen Tag an fast alle Details
dieses Kriegs - die israelischen
Luftangriffe, meine Schule, die wir
- trotz der Tatsache, dass sie
voller Fenster war - als
Luftschutzbunker benutzten. Die
Freude in den Reaktionen mancher
Erwachsener bei der Befreiung
einiger Gebiete in Syrien und
Ägypten und meine Angst vor den
fortwährenden Bombardements aus der
Luft.
Der Bürgerkrieg
im Libanon - Mitte der 70er Jahre -
und alles, was damit im Zusammenhang
steht.
1978 - die
israelische Invasion im Südlibanon.
Das Leben in
Beirut 1980 und 1981, mit den
täglichen Belastungen durch den
Bürgerkrieg, die israelischen
Angriffe und die Flüge, die
mindestens dreimal täglich die
Schallmauer durchbrachen.
1981 der
Bombenangriff auf Al Fakhani in
Beirut und die vielen Autobomben im
selben Jahr.
1982. Der
schreckliche Krieg Israels gegen den
Libanon und die Belagerung Beiruts.
Ich habe als Freiwillige bei den
zivilen Verteidigungskräften unter
dieser Belagerung gelebt. Ich
erinnere mich an alles, was ich
miterlebt habe, von den
Luftangriffen über die Bomben, die
vom Meer aus kamen, bis zu den
Angriffen mit Apaches auf die
Krankenwagen, in denen ich
üblicherweise fuhr, um mich um die
Verwundeten zu kümmern.
Die Menschen, die
getötet worden waren, die verletzten
Menschen unter den Trümmern, ohne
Hilfsmittel, sie zu retten, die
Flüchtlinge, der Mangel an Nahrung,
Wasser, Elektrizität, Treibstoff,
medizinisches Zubehör, usw.
Während der
ersten Intifada war ich außerhalb
Palästinas. Ich habe in den Strassen
Europas demonstriert, um Schutz für
die PalästinenserInnen zu verlangen
und die Umsetzung der Resolutionen
der Vereinten Nationen, damit die
Besatzung beendet und Palästina frei
wird.
Die zweite
Intifada habe ich in Palästina
erlebt. Jede nur vorstellbare Waffe
wurde von den Israelis [israelischen
Regierung, ihren Behörden und ihrer
Armee] gegen die palästinensische
Zivilbevölkerung eingesetzt.
2002: die
israelische militärische Invasion in
der West Bank. Meine Schwester und
ihre Familie waren zusammen mit
meinem Vater unter Belagerung. Sie
war ein paar Tage vor Beginn der
Invasion nach Ramallah gekommen und
mein Vater war gekommen, um ein paar
Wochen bei ihr zu verbringen.
Die ständigen
Kriegsverbrechen in Gaza und der
West Bank, die von den Israelis
[israelischen Behörden und Militärs]
begangen wurden - seit 1994, als ich
nach Palästina ging.
Ich dachte, ich
hätte schon alles miterlebt und
nichts könnte mich mehr schocken
oder mich zum Weinen bringen, weil
ich ja schon das Schlimmste gesehen
hätte.
Das war es, bis
zu diesem Morgen, als wir uns auf
ein Sit-in vor dem UNSCO-Gebäude in
Gaza City aus Solidarität mit der
libanesischen Bevölkerung
vorbereiteten. Dann sahen wir die
Liveübertragung des Massakers in
Kana. Eigentlich war es das zweite
Massaker, das Israel [israelische
Behörden und Militärs] absichtlich
an unschuldigen Zivilpersonen,
hauptsächlich Kindern, Frauen und
älteren Menschen begangen hat. (Im
April 1996 fand das erste statt, als
Shimon Peres Premierminister war.
Damals waren 100 libanesische
Flüchtlinge durch einen israelischen
Luftangriff auf das UNIFIL-Gebäude
getötet worden.)
Ich fühle
Abneigung und Zorn, nicht nur
gegenüber Israel [der israelische
Regierung, ihren Behörden und ihrer
Armee], sondern auch gegenüber der
internationalen Gemeinschaft. Wir
PalästinenserInnen haben Verbrechen
gegen die Menschlichkeit seit der
Gründung Israels 1948 miterlebt. Wir
glauben an internationale
Legitimität, internationales Recht
und die Resolutionen der Vereinten
Nationen. Dessen ungeachtet sind wir
Opfer eines terroristischen
Staates, der nichts anderes zu tun
hat als andauernd unschuldige
Zivilpersonen anzugreifen und das
systematisch im Namen der
Selbstverteidigung.
Spielt
Selbstverteidigung eine Rolle, wenn
täglich, sowohl im Libanon als auch
in den Besetzten palästinensischen
Gebieten, Babys, Kinder und
Gehandicappte getötet werden?
Warum schweigen
die Vereinten Nationen, die
Europäische Union? Deren Aufgabe ist
es doch, Demokratie und
Menschenrechte zu schützen. Ich weiß
warum die Regierungen von Israel und
den USA und die Mehrheit der
Israelis schweigen. Sie sind die
Aggressoren. Sie haben weder uns,
noch unsere Kinder, jemals als
menschliche Wesen betrachtet. Aber
was ist mit den anderen, die von
sich selbst behaupten, zivilisiert
zu sein und die uns beibringen
wollen, demokratisch zu sein,
"einander zu akzeptieren" und
zivilisiert zu sein?
Wenn das eure
Zivilisation und eure Demokratie
ist, dann will weder ich ein Stück
davon, noch will mein Volk
"demokratisch und zivilisiert" sein.
Ich ziehe es lieber vor, eine
"Unzivilisierte", eine "Wilde" zu
sein, als eine demokratische und
zivilisierte Mörderin von Kindern
und Babys.
Ich, die
Unzivilisierte, die Wilde, kümmere
mich um unschuldige Menschen, ganz
egal welche Religion oder
Nationalität sie haben.
Ich, die
Unzivilisierte, die Wilde, bin
demokratischer als andere auf der
Welt, die bei dem, was geschieht
zusehen und nichts tun. Ganz im
Gegenteil, sie geben Israel [der
israelischen Regierung und ihrer
Armee] Entschuldigungen und Zeit,
damit sie mehr unschuldige Menschen
töten und ein ganzes Land zerstören
können.
Es mag egoistisch
klingen, aber ich glaube, ich habe
das Recht so zu sein, weil ich die
Unzivilisierte, die Wilde, bin, die
alle diese Grauen, die ich
aufgezählt habe, erlebt hat, die
nicht zusammengebrochen ist, nicht
aufgegeben hat und ihre
Menschlichkeit nicht verloren hat.
Ich weine auch noch immer, wenn ich
ein Kind weinen sehe, irgendein
Kind, das wegen der Fehler seiner
Führungskräfte weinen muß,
unabhängig davon, ob es ein
israelisches, palästinensisches oder
libanesisches Kind ist.
Aber, glauben Sie
mir, diese Kinder sind definitiv
nicht gleichgestellt und ich
akzeptiere es nicht, dass Leid es so
erscheinen lässt, als ob sie es
wären. Wir sind nicht diejenigen,
die angreifen, die ihre Kinder damit
beauftragen, besondere
Geschenkbotschaften auf Bomben zu
schreiben, die linanesische Kinder
treffen sollen.
Ich bin die
Wilde, Unzivilisierte, aber ich
erziehe meinen vierjährigen Sohn -
trotz seiner Angst vor den Raketen,
den F16 und den Bombardements, denen
er täglich ausgesetzt ist - noch
immer mit den Prinzipien, andere zu
lieben und ihre Bedürfnisse zu
respektieren. Trotz der Tatsache,
dass ich nicht sicher bin, ob er am
21. August noch am Leben sein wird,
um seinen 4. Geburtstag zu feiern.
Ja, ich bin stolz
darauf eine palästinensische Mutter
zu sein, die das Leid ihres Volkes
und das anderer fühlen kann.
Ich glaube noch
immer an Menschlichkeit und an eine
Zukunft für mein Kind, meinen Mann,
mein Volk, mich selbst und die
anderer Menschen um mich herum,
einschließlich die unserer
"zivilisierten" Nachbarn, der
Israelis.
Ja, ich habe
entdeckt, dass ich noch immer Tränen
habe und dass ich noch immer die
Kraft habe zu weinen und zu
schreien….
Beendet den
Wahnsinn der Regierungen von Israel
und der Vereinigten Staaten! Sie
bringen dieser Region die
Zerstörung.
Lama Hourani,
GazaCity
Übers. Tina Salhi
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