Die Welt verweigert den
Palästinensern den eigenen Staat
von Abdul-Rahman Alawi
Die Reaktionen
von Politik und Medien in Europa und den Vereinigten
Staaten von Amerika über das Ergebnis der
palästinensischen Wahlen sind selbstwidersprüchlich.
Erst fordert man mit Recht, parlamentarische
Demokratie, dann will man mit dem Wahlsieger, der
Gesprächbereitschaft signalisiert, keinen Kontakt
haben.
Dass die EU und die USA nicht mit
dem Wahlsieg glücklich sind, ist verständlich. Aber
sind sie nicht mitverantwortlich für die Misere in
den besetzten palästinensischen Gebieten. Die
Palästinenser haben 1996 in demokratischen Wahlen
Jasser Arafat gewählt. Er wurde von Europa und
Amerika fallen gelassen, weil er in das Konzept von
Scharon, der den „Friedensprozess" von Oslo
einseitig für beendet erklärte, nicht passte. Der
israelische Ministerpräsident sperrte nicht nur den
Nobelpreisträger Jasser Arafat in seinem Amtsitz
ein, sondern auch die palästinensischen Bürger in
ihre Städte und Dörfer.
Man erklärte hier Arafat als
Haupthindernis für den Friedensprozess, der
eigentlich von Scharon ad acta gelegt worden war.
Die Palästinenser trauerten zwar um den toten Jasser
Arafat, hegten jedoch die Hoffnung, dass mit seinem
Tod der Weg für eine Erlösung von ihrem Elend
geebnet war und wählten den von Europäern und
Amerikanern favorisierten Mahmud Abbas zu ihrem
Präsidenten. Abbas erfüllte den Wunsch der
amerikanischen Administration und übergab
„freiwillig" Teile seiner Befugnisse an die
Regierung des Ministerpräsiden Ahmad Qurei, mithin
an eine Regierung, die maßgeblich für die
verheerende Niederlage der palästinensischen
Organisation Fatah verantwortlich ist.
Mahmud Abbas, der eigentliche
Architekt der Osloer Vereinbarungen, stand allein da
ohne jede politische Unterstützung. Gleich nach
seiner Wahl im Januar letzten Jahres errang er bei
den islamischen Organisationen eine Waffenruhe, die
sechs Monate lang hielt. Und er bereitete den Weg
für demokratische Kommunalwahlen und jetzt für die
Parlamentswahlen vor. Die palästinensischen Wahlen
liefen fairer und geordneter als die (von den
Amerikanern überwachten) Wahlen im Irak, die im
Nachhinein auch noch korrigiert worden waren.
Hat nicht gerade die
amerikanische Nahostpolitik, die sich unkritisch
gegenüber der brutalen israelischen Besatzung und
der Fortsetzung des illegalen Baus der jüdischen
Siedlungen und der völkerrechtwidrigen Trennmauer
verhielt, zur Schwächung des „Verhandlungspartners"
Abbas und zur Stärkung der Hamas maßgeblich
beigetragen?! Und wie ist es mit der Haltung der
europäischen Union, die dieser amerikanischen
Politik nicht zu widersprechen vermochte?
Die plötzliche Sorge um den
„Friedensprozess" ist heuchlerisch. Wo war diese
Sorge in den letzten fünf Jahren, in denen über 3000
Palästinenser und 1000 Israelis - vorwiegend
unschuldige zivile Opfer - getötet wurden. Wo war
die Sorge, angesichts der erniedrigenden und
menschenverachtenden brutalen Besatzungspolitik
Israels in der Westbank und im Gaza-Streifen?
Hamas hat die Wahlen haushoch
gewonnen. Präsident Abbas nimmt trotz der Niederlage
seiner Partei seine Verantwortung wahr und
beauftragte sofort nach Bekanntgabe der Ergebnisse,
wie es hierzulande üblich ist, den Sieger der Wahl
mit der Bildung der neuen Regierung.
Dieser Mann hat seine Aufgaben
erfüllt. Das souveräne palästinensische Volk hat
seinen Willen zu Veränderung und Bewegung mit einer
Wahlbeteiligung von überwältigenden 77,6% bekundet.
Und statt dass die „zivilisierte Welt" dieses Votum
unterstützt, reagiert sie in der Manie mancher
Drittweltländer und will am liebsten die ganze
demokratische Entwicklung rückgängig machen. Es
würde nicht überraschen, wenn morgen einzelne
„Nahost Experten" erklären, der Nahe Osten sei noch
nicht reif für die Demokratie. Aber genau das
behaupteten seit Jahrzehnten arabische diktatorische
Regime, damit sie ihre Alleinherrschaft zementieren.
Haben die EU und USA ihre
Aufgaben in Bezug auf den Nahostkonflikt eigentlich
gemacht? Nein, was haben sie getan, um die von den
Vereinten Nationen, Russland und von ihnen
initiierte sog. „Roadmap" zu implementieren? Scharon
ignorierte demonstrativ diese internationale
Initiative, er wollte keine verbindlichen Verträge
mit den Palästinensern abschließen und verweigerte
politische Verhandlungen mit Abbas. Der
Unterminierung der internationalen Bemühungen durch
die israelische Regierung wurde tatenlos von der
internationalen Gemeinschaft zugeschaut.
Wundert es dann, wenn das
palästinensische Volk kein Vertrauen mehr zur
„zivilisierten Welt" hat? Was hat sie gegen die
täglichen Erniedrigungen und Schikanen an den
Checkpoints der israelischen Besatzungsmacht
unternommen. Welche Erklärung können sie einer
schwangeren Frau geben, die am Übergang gehindert
wird, ein Krankenhaus rechtzeitig zu betreten und
die ihr Kind vor dem Kontrollposten niederbringt.
Und, und…
Überrascht es, wenn die
Palästinenser sich einer palästinensischen Partei
zuwenden, die sich wirklich täglich und
flächendeckend ihrer Belange und Sorgen annimmt. Das
sind für sie Landsleute, die mit ihnen leben und ihr
Elend teilen, ohne VIP-Status und ohne Privilegien.
Den Palästinensern geht es längst nicht nur um
nationale Fragen, es geht ihnen inzwischen um das
tägliche Brot und Menschenwürde und um die Zukunft
ihrer kleinen Kinder.
Die Palästinenser wählten die
Hoffnung, dass es endlich vorwärts geht. Sie wählten
den elenden Stillstand ab. Schlimmer kann es
wirklich nicht werden. Der heute meistausgesprochene
Satz der Palästinenser: „Es ist nicht wert zu
leben"!
Der Friedensprozess, der
eigentlich gar nicht existiert, kann „fortgesetzt "
werden. Politische Verhandlungen können mit Abbas
sofort aufgenommen werden, in seiner Eigenschaft als
PLO-Vorsitzendem. Zur Erinnerung: der eigentliche
Verhandlungspartner mit Israel ist die PLO, die
einzig legitime Vertreterin des palästinensischen
Volkes in und außerhalb Palästinas. Die
palästinensische Befreiungsorganisation hat bisher
alle Abkommen und Vereinbarungen mit Israel
unterschrieben. Der Nationalrat, das Parlament der
PLO, hat längst seine Nationalcharta geändert und
das Existenzrecht Israels anerkannt.
Dennoch, es ist politisch
unverantwortlich, wenn man so eine bedeutende
politische Kraft zu übergehen versucht. Hamas hat
ihre Verhandlungsbereitschaft erklärt. Die Chance,
Hamas in die Friedenbemühungen einzubinden, muss
wahrgenommen werden. Lassen die europäischen Staaten
diese Chance ungenutzt, droht eine unkalkulierbare
Entwicklung in der Nahost-Region.
Der Nahostkonflikt ist von Beginn
an ein internationales Problem. Es kann nur von und
mit der internationalen Gemeinschaft gelöst werden,
aber nicht gegen den Willen des palästinensischen
Volkes!
(A. R. Alawi war 1983 Leiter des
PLO - Büros in den Niederlanden und von von
1984-1985 Leiter des PLO - Büros in Norwegen und von
1986 bis 1994 leitete er das PLO - Büro in Dänemark.
Jetzt arbeitet er als freier Journalist in Köln und
ist Korrespondent der Nachrichtenagentur WAFA)