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Die entsetzliche Scheinheiligkeit des Westens
Susan Abulhawa
The Hindu, 1. Juli 2014
Die
Leichen der drei israelischen Siedler, die am 12. Juni entführt worden sind,
wurden hastig verscharrt in der Nähe von Hahul, nördlich von Hebron gefunden
Seit die
Jugendlichen von Gush Etzioni, einer jüdischen Siedlung im Westjordanland,
verschwunden sind, hat Israel die vier Millionen Palästinenser, die bisher
schon unter ihrer Knute leben, belagert. Die Soldaten stürmten durch ihre
Städte, durchwühlten ihre Häuser und zivilen Institutionen, machten
nächtliche Razzien in Familien, stahlen deren Eigentum, entführten,
verletzten und töteten. Flugzeuge wurden losgeschickt, um Gaza zu
bombardieren, wieder und wiederholt, um noch mehr Häuser und Institutionen
zu zerstören und außergerichtliche Exekutionen vorzunehmen. Bis jetzt wurden
mehr als 570 Palästinenser festgenommen und ins Gefängnis geworfen, darunter
auch Samer Issawi, der Palästinenser, der nach einem 266 Tage dauernden
Hungerstreik gegen eine willkürliche Verhaftung entlassen wurde. Mindestens
10 Palästinenser wurden getötet, einschließlich dreier Kinder, einer
schwangeren Frau und eines geisteskranken Mannes. Hunderte wurden verletzt,
Tausende terrorisiert. Büros von Universitäten und Wohlfahrtsorganisationen
wurden verwüstet und geschlossen, Computer und andere Geräte zerstört oder
gestohlen und sowohl private als auch offizielle Dokumente ziviler
Organisationen konfisziert. Dieses gezielte Rowdytum ist offizielle
Staatspolitik ausgeführt durch das Militär und schließt noch nicht einmal
die Gewalt gegen Personen und Sachen ein, die von paramilitärisch
ausgerüsteten israelischen Siedlern ausgeht, deren andauernde Angriffe auf
palästinensische Zivilisten auch in den vergangenen Wochen zugenommen haben.
Und nun, nachdem der Tod der Jugendlichen Siedler feststeht, hat Israel
geschworen, Rache zu nehmen. Naftali Bennet, der Wirtschaftsminister, sagte:
„Keine Gnade für die Kindermörder. Dies ist die Zeit für Taten, nicht für
Worte.“
Obwohl
keine der palästinensischen Gruppen die Verantwortung für die Entführung
übernommen hat und vor allem die Hamas jede Verbindung dazu verneint,
behauptet Benjamin Netanjahu felsenfest, dass Hamas dahinter steckt. Die
Vereinten Nationen forderten von Israel Beweise für diese Behauptung, aber
die sind bisher nicht vorgelegt worden, was Zweifel weckt, insbesondere im
Licht des öffentlich geäußerten Zorns über die jüngste Einigung zwischen den
palästinensischen Fraktionen und Präsident Obamas Anerkennung der neuen
palästinensischen Einheitsregierung.
Im Westen
haben die Schlagzeilen über den Bildern der drei israelischen Jugendlichen
das israelische Terrorregime in Palästina als Suche nach den Tätern und
militärisches Durchkämmen dargestellt. Portraits der unschuldigen jungen
Israelis wurden durch die Nachrichtenagenturen verbreitet und die Stimmen
der Eltern, die ihrem Schmerz Ausdruck verleihen, wurden im Original
wiedergegeben. Die USA, die EU, Großbritannien, die UNO, Kanada und das
Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IRK) haben die Entführung verurteilt
und forderten die sofortige und bedingungslose Freilassung der Jugendlichen.
Nach Auffinden der Leichen ergossen sich Stimmen der Verurteilung und des
Mitgefühls.
Präsident
Obama sagte, „auch als Vater kann ich mir das unbeschreibliche Leiden der
Eltern dieser Teenager nicht vorstellen. Die Vereinigten Staaten verurteilen
strengstens diesen sinnlosen Akt des Terrors gegen unschuldige Jugendliche.“
Obwohl
hunderte palästinensische Kinder durch Israelis entführt, brutal behandelt
und getötet werden – in einigen Fällen in den vergangenen zwei Wochen – gibt
es selten eine ähnliche Reaktion der Weltöffentlichkeit, wenn überhaupt.
Gerade
kurz vor dem Verschwinden der jungen Siedler wurde der Mord an zwei
palästinensischen Teenagern von einer örtlichen Überwachungskamera
festgehalten. Klare Beweise zeigen, einschließlich der aufgefundenen
Gewehrkugeln und der CNN Filmaufnahmen, die den Israelischen Scharfschützen
zeigen wie er in genau dem Moment abdrückt, wo die Jungen erschossen werden,
dass sie kaltblütig erschossen wurden durch israelische Soldaten. Es gab
keinerlei Verurteilung oder Rufe nach Gerechtigkeit für diese Teenager von
Seiten führender Politiker oder internationaler Institutionen, keine
Solidarität mit den trauernden Eltern, keine Erwähnung der über 250
palästinensischen Kinder, die aus ihren Betten heraus entführt werden oder
auf ihrem Schulweg, und die weiter in israelischen Gefängnissen schmachten
ohne Anklage oder Prozess, physisch und psychisch gefoltert. Ganz zu
schweigen von der barbarischen Belagerung des Gazastreifens oder den
Jahrzehnten des anhaltenden Diebstahls, der Ausweisungen, der Angriffen auf
die Bildungsinstitutionen, des Landraubs, der Hauszerstörungen, des nach
Farben verschlüsselten Erlaubnissystems, der willkürlichen Verhaftungen,
Bewegungseinschränkungen, Kontrollposten, außergerichtlichen Tötungen,
Folter und Verboten an jeder Ecke, die die Palästinenser in isolierte
Ghettos zwingen.
Nichts
davon scheint von Bedeutung
Es spielt
keine Rolle, dass bisher niemand weiß, wer die israelischen Teenager
ermordet hat. Das ganze Land scheint nach palästinensischem Blut zu rufen,
was an Lynchmorde an Schwarzen in den amerikanischen Südstaaten erinnert,
die stattfanden, wann immer ein Weißer tot aufgefunden wurde. Es spielt auch
keine Rolle, dass diese israelischen Teenager Siedler waren, die in einer
der illegalen Kolonien nur für Juden lebten, auf vom Staat von
palästinensischen Eigentümern gestohlenem Land aus dem Dorf el-Khader. Ein
großer Teil der Siedler dort sind Amerikaner, überwiegend aus New York, wie
einer der ermordeten Jugendlichen, die das Privileg besitzen, zwei
Staatsbürgerschaften zu haben; irgendwo ein zweites Land zu haben, ihr
eigenes Heimatland und eins bei uns, während die einheimischen Palästinenser
in Flüchtlingslagern verfaulen, in umlagerten Ghettos oder im weltweiten
Exil.
Palästinensische Kinder werden jeden Tag angegriffen oder getötet und selten
taucht deren Schicksal in der westlichen Presse auf. Während
palästinensische Mütter häufig beschuldigt werden, wenn Israel ihre Kinder
tötet, und angeklagt werden, dass sie sie in den Tod schicken und nicht im
Hause behalten, wenn israelische Heckenschützen unterwegs sind, fragt
niemand Rachel Frankel, die Mutter von einem der ermordeten Siedler. Sie
wird nicht zu der Tatsache befragt, dass einer der Entführten ein Soldat
war, der möglicherweise verwickelt war in die Unterdrückung der
palästinensischen Nachbarn. Niemand fragt danach, warum sie mit ihrer
Familie aus den USA einwanderte, um in einer abgetrennten Kolonie mit
Herrschaftsanspruch zu leben, errichtet auf dem von einheimischen
nicht-jüdischen Besitzern konfisziertem Land. Auf keinen Fall würde jemand
es wagen ihr vorzuwerfen, ihre Kinder Gefahren ausgesetzt zu haben.
Keine
Mutter sollte die Ermordung ihres Kindes erleiden. Keine Mutter und kein
Vater. Das gilt nicht nur für jüdische Eltern. Das Leben unserer Kinder ist
nicht weniger kostbar und ihr Verlust nicht weniger erschütternd und ein
seelischer Schock für die Angehörigen. Aber in den Augen des Staates und der
Welt wird ein schrecklicher Unterschied gemacht im Hinblick auf den Wert des
Lebens: während ein palästinensisches Leben als billig und veräußerlich
gilt, ist jüdisches Leben sakrosankt.
Die
Außergewöhnlichkeit und Überlegenheit jüdischen Lebens ist das grundlegende
Fundament des Staates Israel. Es durchzieht jedes seiner Gesetze und jede
Rede und es passt zu der offensichtlichen Ablehnung und Missachtung
palästinensischen Lebens. Ob durch Gesetze, die Juden bevorzugen bei der
Arbeitssuche oder bei Bildungsmöglichkeiten, oder durch Gesetze, die
Nicht-Juden vom Kauf oder der Mietung von Wohnungen in jüdischen Vierteln
ausschließen, oder unzähligen Militärverordnungen mit Beschränkungen für die
Bewegungsfreiheit, den Wasserverbrauch, den Zugang zu Lebensmitteln, zu
Bildung, zu Heiratsmöglichkeiten und wirtschaftlicher Unabhängigkeit. In den
Worten des Oberrabbiners von Hebron und Kiryat Arba: „Tausend nicht-jüdische
Leben sind nicht so viel wert wie ein jüdischer Fingernagel.“
Israelische Gewalt in den vergangenen Wochen wurde allgemein akzeptiert und
erwartet. Und der Terror, den sie voraussichtlich noch über unser Volk
bringen werden, wird wie immer verdeckt werden durch die Legalität der
Uniformen und der technischen Todesmaschinen. Israels Gewalt, mag sie auch
noch so gemein sein, wird unweigerlich dargestellt als heldenhafte ironische
Gewalt, die westliche Medien als „Antwort“ bezeichnen, als ob
Palästinensischer Widerstand nicht selbst eine Antwort wäre auf die
israelische Unterdrückung. Als das IRK aufgefordert wurde, einen ähnliche
Aufruf zur sofortigen und bedingungslosen Freilassung von Hunderten von
palästinensischen Kinder in israelischen Gefängnissen zu veröffentlichen
(ebenfalls ein Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht) weigerte sich das
IRK mit dem Hinweis, dass es einen Unterschied gebe zwischen der isolierten
Entführung israelischer Jugendlicher und der regelmäßigen Entführung,
Folterung, Isolation und Gefangenhaltung palästinensischer Kinder.
Wenn
unsere Kinder Steine werfen auf schwer bewaffnete israelische Panzer und
Militärfahrzeuge, die durch unsere Straßen fahren, sind wir nichtswürdige
Eltern, die für die Ermordung unserer Kinder verantwortlich sind, wenn sie
von israelischen Soldaten oder Siedlern erschossen werden. Wenn wir uns
weigern, bedingungslos zu kapitulieren, sind wir keine „Partner für den
Frieden“ und wir verdienen es nicht anders, als dass unser Land konfisziert
wird für den exklusiven Gebrauch durch Juden. Wenn wir Waffen ergreifen und
zurückschlagen, Soldaten entführen, sind wir Terroristen der übelsten Sorte,
die nur selbst dafür verantwortlich sind, dass Israel die gesamte
palästinensische Bevölkerung kollektiver Bestrafung unterwirft. Wenn wir
friedlich protestieren, sind wir Randalierer, die lebensgefährlichen
Beschuss verdient haben. Wenn wir anklagen, schreiben, boykottieren, sind
wir Antisemiten, die zum Schweigen gebracht, deportiert, marginalisiert und
verfolgt werden müssen.
Was also
sollen wir tun? Palästina wird ziemlich wörtlich von der Landkarte gelöscht
durch einen Staat, der von der Jüdischen Überlegenheit und der
Privilegierung der Juden ausgeht. Unser Volk wird weiter seines Heimatlandes
und seiner Geschichte beraubt, an den Rand der Menschheit gedrängt, selbst
beschuldigt für sein bedauernswertes Schicksal. Wir sind eine
traumatisierte, prinzipiell wehrlose, einheimische Bevölkerung, die zerstört
und vernichtet wird durch eine der größten Militärmächte der Welt.
Rachel
Frankel wandte sich an die UNO mit der Bitte um Hilfe mit den Worten, dass
es „böse ist, Kinder, unschuldige Jungen oder Mädchen, zu nehmen und sie in
irgendeiner Auseinandersetzung als Druckmittel zu verwenden. Es ist
grausam... Ich frage: Hat nicht jedes Kind das Recht, sicher von der Schule
nach Hause zu kommen?“ Treffen solche Gefühle nicht auch auf
palästinensische Kinder zu? Hier und hier und hier und hier und hier und
hier
sind Videoaufzeichnungen, die zeigen, wie palästinensische Kinder in der
Nacht aus ihren Häuser geholt werden oder auf ihrem Weg zur oder von der
Schule verhaftet werden.
Aber auch
das alles zählt nicht. Oder doch? Es zählt, dass drei israelische Juden
getötet wurden. Egal wer es getan hat oder unter welchen Umständen, die
gesamte palästinensische Bevölkerung wird darunter zu leiden haben, noch
mehr als bisher schon.
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