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Angriff auf
meine Familie
(Teil 1)
Ayah Abubasheer ,Gaza November 2012
http://electronicintifada.net/content/under-bombs-our-catastrophie-and-our-hope-in-gaza
Seit Beginn von
Israels „Operation Wolkensäule“ ist die Zahl
der getöteten und verletzten
palästinensischen Kinder dramatisch
gestiegen. Es fällt mir schwer, das Wort
Zahl zu benützen, da wir tatsächlich nicht
nur Nummern sind; es sind tragische,
herzzerbrechende und entsetzliche
Geschichten um diese Kinder.
Meine Tante lebt
in al-Bureij-Flüchtlingslager mitten im
Gazastreifen, nicht weit von da, wo ich
lebe, in Deir al-Balah. Ihr Haus wurde
viele Male während des Angriffs 2008/09 auf
Gaza bombardiert, und es ist noch immer ein
mögliches Ziel für die israelischen
Luftangriffe.
Das aktuelle
Ziel ist nun ihr Schwager, der jetzt die
Stelle von Ahmad Jabari als neuer
Kommandeur des militärischen Flügels der
Hamas übernommen hat. Um ihres Zieles willen
konnten sich Israels F-16-Bomber wenig darum
kümmern, wenn sie Kinder, Frauen oder alte
Leute töten oder ein fünfstöckiges Gebäude
treffen, selbst wenn sie wissen, dass der
„gesuchte Mann“ mit seiner Familie nicht in
seiner Wohnung ist.
Wir hörten eine
sehr laute Explosion in al-Burej und wir
riefen schnell meine Tante an, die kaum in
der Lage war zu sagen, dass sie OK sei. Die
Explosion war in ihrem Nachbarhaus und das
Opfer war diesmal ein einjähriges Baby, Eyad
Abu Khusa. Obwohl sie sich geweigert hatte,
bei Beginn der Angriffe ihr Haus zu
verlassen, kam sie heute mit ihren beiden
Söhnen, um nach dem wiederholten Angriff
auf Al-Bureij bei uns zu bleiben.
Kein
Luftschutzkeller – nichts ist sicher
Eine andere
Tante verließ in Rafah ihr Haus und brachte
ihre beiden Töchter mit und sagte, sie wolle
nicht weit weg von ihren Eltern und Brüdern
sterben. Beide Tanten dachten mit uns, dass
unser Gebiet ein sicherer Ort sei. Aber was
ist ein sicherer Ort, wenn jeder ein
mögliches Ziel ist? Wenn der ganze
Gazastreifen für die israelische Luftwaffe
wie ein leeres Land ist.
Ironischerweise
wurden meine Tanten vom durchdringendsten
Knall, den wir je hörten und dessen Zeugen
wir alle wurden, begrüßt: eine schwarze
Rauchwolke breitete sich ganz nah bei uns
aus genau in dem Augenblick, in dem wir über
den „sicheren Ort“ sprachen. Wir erfuhren
später, dass es ein Flugzeug war, das die
Hamas abgeschossen haben soll. Kein
Unterschlupf in Gaza ist sicher. Ich nehme
an, es ist der Instinkt unserer
menschlichen Natur, dass wir dahin
tendieren, unter solchen Umständen unsere
Lieben in unserer Nähe halten zu wollen.
Dies gibt uns ein Gefühl der Sicherheit – so
denken wir wenigstens.
Seit dem Morgen,
als Tamer al-Hemry, ein palästinensisches
Islamic Jihad-Mitglied, getötet wurde,
machte sich in Deir al-Balah Zorn und Wut
gegen Israel breit. Obwohl Tamer,25, an
bewaffneten Widerstand teil genommen hat,
war er jetzt nicht mit einer militärischen
Aufgabe beschäftigt, auch nicht beim
Abfeuern von Raketen, als er ermordet wurde.
Der israelische
Jet hat ihn dadurch ausfindig gemacht, dass
der ihn auf seinem Handy angerufen hat,
worauf er geantwortet hat. Er wurde
getroffen, bevor er dem Tod entfliehen
konnte. Al-Hemry war ein Nachbar und
Verwandter, und seine Trauerfeier war direkt
vor meiner Haustür.
Wann immer einer
als Märtyrer gestorben war, können wir von
den Moscheen unbeugsame Aufrufe hören, die
den Leuten Mut machen sollen und sie
ermutigen, mit Geduld, Standhaftigkeit und
Widerstand auszuharren. An diesem trostlosen
Tag hat eine sehr nahe Moschee schon sehr
früh am Morgen die Leute gebeten, zu kommen
und über dem Märtyrer zu beten. Hunderte
Städter kamen, von Fotografen begleitet und
Busse brachten Leute aus andern Orten .
Lautsprecher
verstärkten religiöse und revolutionäre
Lieder aus dem Radio über die ganze Straße.
Obwohl die Zahl der Trauernden wirklich
erstaunlich war, war den Leuten bewusst,
dass Israel jeden Moment auch die Beerdigung
bombardieren könnte, wie es tatsächlich am
ersten Tag der Offensive geschah.
Die Menschen
haben die Erfahrung gemacht, den
Besatzungskräften nicht zu trauen. Es gab
ein allgemeines Gefühl, sich nicht in großer
Anzahl zu versammeln. Denn Israel hat
wiederholt seine heimtückische Taktik des
Bombardierens einer Örtlichkeit angewandt:
nach fünf Minuten, wenn die Leute zum Helfen
und Wegtragen der Opfer kommen, auch sie bei
einem zweiten Angriff tödlich zu treffen.
Was für ein andauernder Prozess, den Israel
anwendet, um das Volk des Gazastreifens zu
entmenschlichen.
Wahlrechnung
Wir haben uns
schon selbst gefragt, warum wir immer die
Rechnung für die israelischen Wahlen zahlen
müssen. Ehrlich , wir erwarteten nicht, dass
dieses letzte Morden eskalieren würde.
Unsere Katastrophe wird der Welt gezeigt -
und sie lässt es wieder geschehen.
Während ich
diese Zeilen schreibe, erbebt das Haus von
einer nahen Explosion. Ich schaue zum
Fenster hinaus: Dunkelheit ist über dem
ganzen Platz, da auch Stromausfall ist. Ich
benütze das UPS-Notstromgerät, das nicht
alle Leute hier haben und selbst dieses
Gerät hält nicht lange.
Die Batterie des
Gerätes ist leer, und ich habe keine
Netzverbindung. Also muss ich warten, bis
ich wieder Strom habe, um dies fertig zu
schreiben . Die Straßen sind völlig
verlassen. Während der letzten Tage mussten
wir entweder Explosionen hören oder die
Sirenen von Ambulanzfahrzeugen oder das
unerbittliche unangenehme Geräusch der
Drohnen, die den Himmel über Gaza füllen,
buchstäblich füllen. Die meiste Zeit hört
man beides.
Heute Nacht ist
schwerer Artilleriebeschuss mit dem Lärm
der Drohnen. Hat man sich jemals vorstellen
können, dass man mit diesem Lärm Tag und
Nacht leben muss? Es gibt keine Pause. Die
ganze Situation ist herzzerreißend, da
Israel den Gazastreifen aus der Luft und vom
Meer her unter Beschuss hat.
Ein tief
tragisches Gefühl von déjà vu kommt einem
bei dem hoch, was hier im Gazastreifen
geschieht: eine israelische
Gewalteskalation, die sich gegen eine
wehrlose Bevölkerung richtet. Wir erinnern
uns auch an den Augenblick am 4. Januar
2009, als israelische Soldaten Zaytoun
südlich von Gaza-Stadt verwüsteten.
Noch ein
entsetzliches Massaker
21
Familienmitglieder wurden beim Beschießen
nur eines Hauses, das der Familie Samouni
gehört, getötet und 19 verletzt. Neun der
Toten waren Kinder und das Jüngste war ein
Baby von gerade sechs Monaten. An jenem
Abend bombardierte ein israelischer F-16
auch das Haus der al-Dalou-Familie und
beging so noch ein Massaker und löschte
eine ganze Familie aus. Zwölf Personen,
einschließlich fünf Kindern und drei Frauen,
wurden bei diesen Angriff getötet, einige
gehörten zur selben Familie; dieser Sonntag
markierte den Tag mit den meisten Toten .
Die Leute hören
gewöhnlich das lokale Radio und
TV-Stationen, besonders unter diesen
Umständen. Von Anfang der Angriffe an, hat
Israel viele lokale Radiostationen zerstört.
Zusammen mit Flugblättern, die israelisches
Militär über Gaza fallen ließ, will es
Ängste im Volk verbreiten.
In letzter Zeit
sind sogar Medienzentren angegriffen
worden, als die israelische Luftwaffe
Raketen auf das al-Shawa Hosary-Wohnhaus
Raketen abschossen, wo die meisten
Radio-Kanäle sich befanden. So wurde die
lokale Hamas-Station al-Aqsa TV zerstört –
als Teil der psychologischen Kriegsführung.
Seit Beginn dieses Krieges haben wir viele
Anrufe aus Israel bekommen, um Auskünfte
über „Widerstand-Terroristen“ zu erhalten.
In den letzten beiden Tagen bekamen wir
bedrohlichere Anrufe, wir sollten unsere
Häuser verlassen, weil diese bombardiert
werden sollen, aber sie wurden nicht
bombardiert. Es ging ihnen „nur“ darum,
Panik zu verbreiten und die Menschen zu
terrorisieren.
(dt. Ellen
Rohlfs)
Angriff auf
meine Familie
Ayah
Abu Basheer,
Am 19. November um sieben
Uhr morgens wurden zwei Männer aus
meiner Großfamilie und ein Nachbar von
israelischen Raketen tödlich getroffen. Alle
drei – Tamer, Amin und Rashid – starben
sofort den Märtyrertod.
Es war Amins Geburtstag.
Verkohlt,
zusammengeschrumpft und in Stücke gerissen,
aufeinandergehäuft, waren sie vom
weißen Leichentuch bedeckt. Die drei haben
niemals Raketen auf Israel geschossen, sie
haben nie israelische Kinder oder Frauen
oder gar Soldaten getötet. Sie haben nie
Waffen in den Händen gehabt. Sie waren keine
„Terroristen“.
Ich kannte zwei meiner
Verwandten, Tamer und Amin persönlich und
bin sicher, dass sie nie in irgend einen
bewaffneten Widerstand verwickelt
waren. Die drei waren Bauern, die Tomaten
auf ihrem Land anbauten – das war ihre
Arbeit. Ihr kleiner Laster war offen und das
israelische Jet mit seiner hohen Technologie
konnte sicher die Tomaten im hinteren Teil
des Wagens erkennen.
Er traf sie mit einer
Rakete, die sie nicht nur tötete, sondern
schrecklich zurichtete. Den Tomaten geschah
nichts, denn die waren nicht ihr Ziel.
Auf Grund ihrer hohen
Technologie und einer Übung im Töten, wurde
die PC-gesteuerte
Rakete nicht vertikal
fallen gelassen, wie man sich das allgemein
vorstellt, sondern von der Seite, dass sie
die vordere Tür durchdringt und die drei,
die neben einander saßen, tötete. Der
hintere Teil des Wagens blieb intakt.
Tamer und Amin waren
Cousins, die 32 und 40 Jahre alt waren.
Tamer hatte zwei Söhne und eine Tochter;
Amin hatte zwei Töchter. Alle Kinder sind
jünger als acht Jahre alt. Wir gingen zu
Tamer und Amins Haus, wo sich Hunderte
von Leuten versammelt hatten – Verwandte und
andere, Alte und Junge, Männer und Frauen.
Ihre Mutter schrie, ihre
Frauen wurden viele Male bewusstlos; ihre
Tanten rannten wegen ihrer
Beerdigung und ihre Kinder standen geschockt
und ausdruckslos da, als ob sie sich dagegen
wehrten oder als ob sie nicht begreifen
konnten, was hier vor sich ging. Der
plötzliche Verlust ihres Vater ging
über ihren Verstand.
Tamers Vater ist
bis jetzt noch im Krankenhaus . Eine Tochter
fragte ihre Mutter: „Bitte, Mama, ruf Papa
an, er solle bald kommen.“ Eine andere
Tochter hielt ihre Großmutter an, die
mit den Männern zum Friedhof eilte ; sie
sagte, sie wolle ihn noch bis zum
letzten Augenblick sehen. Als sie
zurückkehrte, fragte die Tochter ihre Oma:
„Wann wird Papa zurückkehren, Oma?“
Um das Kind zu beruhigen,
sagte ihre Oma: „ Hab keine Angst, Liebling,
er wird morgen kommen.“ Geschockt und
überrascht erwiderte die 6Jährige: „Sind
Tote jemals zurückgekehrt?“
Man brachte die Körper
der Märtyrer zu ihren Häusern, aber sie
waren vollkommen bedeckt. Die Gesichter der
Märtyrer sind nur dann bedeckt, wenn sie
sehr beschädigt sind. Wir konnten Tamirs und
Amins Gesichter nicht sehen. Mein Bruder
sagte mir, dass Rashids Kopf in zwei Teile
gebrochen war, aber nur ein Teil zu
beerdigen war.
Nun ist es 6 Uhr am
Abend. Während die Trauergemeinde im
Trauerzelt sitzt, fällt in der Nähe des
Zeltes noch eine Rakete. Die Leute rannten
schnell weg – wir wussten ja nicht, ob sie
womöglich später explodiert.
Dank des vergossenen
Blutes der Kinder von Gaza beim
2008/09-Massaker, bei dem wir an das
Sharpville und Guernica Palästinas dachten,
gewann die Boykott-, Divestment- und
Sanktions-Bewegung (BDS) weltweit an
Verbreitung.
Nun ist dieses Massaker
vorüber und wir leben noch. Aber wir Gazaer
überleben nur, um uns an die Qualen zu
erinnern. Um uns zu versichern, dass das
Blut unserer Märtyrer nicht umsonst
vergossen wurde, senden wir eine klare
Botschaft an die Welt, ihre Aufrufe zu einer
wichtigen ethischen internationalen Kampagne
zu intensivieren, um die Apartheid Israels
zu isolieren, bis es sich an das
internationale Recht hält und seine
rassistische Politik beendet.
Nach dem Überfall auf
Gaza 2012 muss BDS noch effektiver werden,
damit wir endlich unsere Rechte bekommen.
Ayah Abubasheer hat einen
Master in globaler Politik von der London
School of Economics and Political Science (LSE).
Ihr erster akademischer Grad war in
englischer Sprache und Literatur. Sie ist
ein Mitglied des Komitees für BDS in Gaza .
(dt. Ellen
Rohlfs)
http://electronicintifada.net/content/under-bombs-our-catastrophe-and-our-hope-in-gaza
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