Welches Gesetz soll ausgeführt werden?
Meron Benvenisti, Haaretz, 19.1.07
Während
Kabinettsmitglieder schockierend auf eine Siedlerin reagieren,
die eine Hebroner Familie beleidigt, kam ein Kommentar von
Ephraim Sneh: „Die Gesetze des Staates werden in dieser Stadt
nicht mit gebotener Eile ausgeführt, besonders in Bezug auf die
israelischen Bürger.“ Die Worte des stellvertretenden
Verteidigungsministers waren als Kritik gegenüber
Sicherheitskräften gedacht, die in Hebron für Gesetz und Ordnung
sorgen sollen. Sie enthielten aber auch den Gedanken, dass das
Problem nicht an „den Gesetzen des Staates“ liegt, sondern nur
an deren Ausführung.
Auf
welche Gesetze und welchen Staat verwies denn der Minister?
Hebron ist von Israel nicht annektiert worden, steht also unter
Militärherrschaft. Aber nach 40 Jahren Besatzung kann ein
vertretender Minister solche juristischen Feinheiten übersehen
und so tun, als wäre Hebron annektiertes Gebiet – genau wie jede
andere israelische Gemeinde, jedes israelische Fahrzeug oder
jeder Jude in den (besetzten) Gebieten als israelisch angesehen
werden.
Die
Anweisung der Bildungsministerin, die „Grüne Linie“ wieder in
die Schulbücher aufzunehmen, erregte die Gemüter und zeigte,
dass viele, die diese Maßnahme befürworteten glauben, es gebe
einen wesentlichen Unterschied zwischen beiden Seiten der Grünen
Linie; abgesehen von Jerusalem und den Golanhöhen hat Israel
seine Gesetze den „besetzten“ Gebieten jenseits der anderen
Seite nicht auferlegt.
Nichts
könnte mehr missverstanden werden. Der Unterschied besteht nur
darin, in wie weit die Annexion ausgeführt wurde. Anders als die
erklärten, umfassenden Annexionen von Ost-Jerusalem und den
Golanhöhen, wo die Prinzipien zuerst festgelegt wurden aber
später Anwendung fanden, wurde hier die gegenteilige Methode
angewandt: die Annexion fand nach und nach, in selektiver Art
statt, bis nach zwei Jahrzehnten die Annexion vollkommen
stattgefunden hat – trotz der Fassade, dass das“ Gesetz nicht
auferlegt“ worden sei.
Diese
Fiktion ist für alle Betroffenen zweckdienlich. Die Linke kann
sich selbst vormachen, dass die Grüne Linie noch alle
Möglichkeiten offen lässt und dass die Herrschaft in den
(besetzten) Gebieten eine militärische ist – und deshalb eine
vorläufige. Die Rechte kann leidenschaftlich auf einer
„erklärten Ausführung“ des Gesetzes bestehen und sich inzwischen
einer selektiven Annexion erfreuen, die nur für Juden Gültigkeit
hat – worin ihre Raffiniertheit besteht.
Die
Annexion nur für Juden hat ein duales Rechtssystem geschaffen,
nach dem die Herrschaft des Gesetzes auf der individuellen
nationalen Identität beruht. Die „lokale“ Bevölkerung ist nur
dem ursprünglichen Gesetz unterworfen, das durch Tausende
militärischer Verfügungen ergänzt wurde. Das Recht zu wählen,
besteht nur für Juden. Wenn es passt, sind sie in jeder Weise
israelische Bürger. Wenn es nicht passt, z.B. in Sachen Höherer
Bildung und besonders bei der Planung von Infrastruktur, sind
sie dem lokalen Gesetz unterworfen. Das letztere bleibt hinter
dem israelischen Gesetz zurück und erlaubt so Manipulationen.
Die
Konfrontation zwischen der Siedlerin und der Palästinenserin in
Hebron war ein Zusammenprall zwischen zwei parallelen Welten:
die jüdische Frau besitzt alle Rechte einer Bürgerin eines
freien Landes, die einen Anspruch hat, von dessen
Sicherheitskräften geschützt zu werden. Auf der anderen Seite
ist eine Frau aus dem besetzten Volk, die auch ein Recht auf
Schutz hat. Doch die Besatzungsarmee hat seit langem vergessen,
dass sie nach dem Völkerrecht die Aufgabe hat „das beschützte
Volk“ zu beschützen. Die Armee ist zur Miliz der Siedler
geworden und betrachtet die einheimische Bevölkerung als
feindliche Elemente.
Es ist
einfach, die vulgäre Art der Siedler von Hebron zu verurteilen,
und es ist einfach, die jüdische Enklave dort als eine Bande
gewalttätiger Gangster abzutun. Sie sind nämlich nur das
Unkraut, das aus dem verrotteten Boden einer grausamen Regierung
aufgeht, die jenseits der Grünen Linie die Oberhand bekommen
hat. Es ist ein Regime, das sich auf ethnische Diskriminierung
und Trennung, Doppelstandard und die Abwesenheit der Herrschaft
des Gesetzes gründet.
Welches
Gesetz möchte denn nun der stellvertretende Minister mit
„gebotener Eile“ angewendet sehen? Das der Siedlerin oder das
der Palästinenserin? An einem Ort, wo es unterschiedliche und je
nach nationalen und personellen Identitäten diskriminierende
Gesetze gibt, herrscht gar kein Gesetz. Was können wir von
Soldaten und Polizeioffizieren erwarten? Dass sie nicht von
Verordnungen beeinflusst sind, die ihnen beibringen, wie man in
diskriminierender und selektiver Weise handelt?
Die
Aufregung über die primitive Schimpftirade der Frau ist nur eine
Ablenkung von der Realität, die jenseits der Grünen Linie
herrscht, wo das Leben angeblich normal sei. Es ist noch nicht
lange her, dass die Liberalen versuchten, die Grüne Linie aus
den Landkarten zu löschen, nachdem sie sich aus einem Symbol der
Hoffnung auf Frieden zu einer Linie verwandelt hat, die den
Bereich der Apartheid darstellt.
(dt. Ellen Rohlfs) |