Eine
Freiheitsfahrt
Uri Avnery, 20.1.07
MAHATMA GANDHI
hätte die Protestaktion sehr geschätzt. Nelson
Mandela hätte sie begrüßt. Martin Luther King hätte
sie großartig gefunden – sie hätte ihn an frühere
Zeiten erinnert.
Gestern hätte
eine Verordnung des Generals Yair Naveh, Kommandeur
des Abschnitts Mitte, rechtsgültig werden sollen.
Sie verbietet israelischen Fahrern, in den besetzten
Gebieten einen palästinensischen Passagier
mitzunehmen. Der eine gestrickte Kippa tragende
General, ein Freund der Siedler, rechtfertigte diese
Verordnung als vitale Sicherheitsmaßnahme. In der
Vergangenheit hatten Bewohner der Westbank zuweilen
israelisches Gebiet in israelischen Fahrzeugen
erreicht.
Israelische
Friedensaktivisten entschieden sich, gegen diese
widerliche Verordnung zu protestieren. Mehrere
Organisationen planten für den Tag, an dem die
Verordnung gültig werden sollte, eine Protestaktion.
Sie organisierten eine „Freiheitsfahrt“ israelischer
Autobesitzer, die in die Westbank fahren (auch dies
schon ein Delikt) und Palästinenser mitnehmen
sollten, die sich freiwillig für diese Aktion
gemeldet hatten.
Das hätte ein
eindruckvolles Ereignis werden können. Die
israelischen Fahrer und die palästinensischen
Mitfahrer waren im Begriff, offen das Gesetz zu
brechen, und nahmen dabei Verhaftung und ein
Gerichtsverfahren vor einem militärischen Gericht in
Kauf.
Im letzten
Augenblick wurde die Order „eingefroren“. Die
Demonstration wurde abgesagt.
DIE
SUSPENDIERTE (aber nicht offiziell aufgehobene)
Verordnung roch stark nach Apartheid. Man kann sie
einer Reihe Maßnahmen der Besatzungsbehörden
hinzufügen, die an das rassistische Regime
Südafrikas erinnern, wie z.B. der systematische
Ausbau von Straßen in der Westbank, die nur für
Israelis bestimmt sind und auf denen Palästinenser
nicht fahren dürfen. Oder das „provisorische“
Gesetz, das Palästinensern in den besetzten Gebieten
verbietet, mit ihrem israelischen Ehepartner in
Israel zusammenzuleben. Und am wichtigsten: die
Mauer, die offiziell „Trennungsanlage“ genannt wird.
In Afrikaans bedeutet „Apartheid“ Trennung.
Die Vision von
Ariel Sharon und Ehud Olmert läuft auf die
Errichtung eines „Palästinensischen Staates“ hinaus,
der nur aus einer Anzahl palästinensischer Inseln in
einem israelischen Meer bestehen soll. Es ist
ziemlich einfach, Ähnlichkeiten zwischen den
geplanten Enklaven und den „Bantustans“ zu
entdecken, die vom Regime der Weißen Südafrikas
errichtet worden waren. Es waren die sog.
„Homelands“, in denen die Schwarzen sich angeblich
einer gewissen Selbstregierung erfreuen sollten, die
aber tatsächlich zu rassistischen
Konzentrationslagern geworden waren.
Deswegen haben
wir Recht, wenn wir den Terminus „Apartheid“ in
unserm täglichen Kampf gegen die Besatzung benützen.
Wir sprechen von einer „Apartheidmauer“ und
„Apartheidmethoden“. Die Verordnung von General
Naveh hat praktisch den Gebrauch dieses Wortes schon
offiziell sanktioniert. Sogar Institutionen, die
weit entfernt vom radikalen Friedenslager sind,
setzen sie in Verbindung mit dem Apartheidsystem.
Deshalb ist der
Titel auf Jimmy Carters neuem Buch – „Palästina:
Frieden, nicht Apartheid“ - völlig gerechtfertigt.
Der Titel erregte den Zorn der „Freunde Israels“
sogar noch mehr, als der Inhalt des Buches selbst.
Wie konnte er dies wagen? Israel mit dem anrüchigen
rassistischen Regime zu vergleichen? Zu behaupten,
dass die Regierung Israels von Rassismus motiviert
sei, wenn alle ihre Maßnahmen doch nur von der
Notwendigkeit motiviert seien, seine Bürger vor
arabischen Terroristen zu schützen? (Übrigens ist
auf dem Umschlag des Buches das Foto einer
Demonstration gegen die Mauer, die von Gush Shalom
und Ta’ayush organisiert wurde, zu sehen. Carters
Blick ist einem unserer Poster zugewandt, auf dem zu
lesen steht: „Die Mauer – ein Gefängnis für die
Palästinenser, ein Ghetto für Israelis“.
Es scheint, als
sei Carter selbst nicht so glücklich über die
Anwendung dieses Begriffes gewesen. Er deutete an,
dass er auf Bitte des Verlags hinzugefügt wurde, der
dachte, ein provokativer Titel würde die
Öffentlichkeit eher zum Kauf anregen. Wenn dem so
ist, dann war der Plan von Erfolg gekrönt. Die
berühmte jüdische Lobby wurde vollständig
mobilisiert. Carter wurde als Antisemit und als
Lügner an den Pranger gestellt. Die Debatte über den
Titel trat an die Stelle einer Debatte über die
Fakten, die im Buch dargestellt werden und die nicht
ernsthaft hinterfragt wurden. Das Buch ist bis jetzt
noch nicht auf Hebräisch erschienen.
ABER WENN wir
den Terminus „Apartheid“ benützen, um eine
Situation in den besetzten Gebieten zu beschreiben,
müssen wir uns der Tatsache bewusst sein, dass die
Ähnlichkeit zwischen der israelischen Besatzung und
dem Regime der Weißen nur Methoden betrifft, nicht
die Substanz. Dies muss ganz klar gemacht werden, um
große Irrtümer in der Analyse der Situation und den
daraus resultierenden Schlüssen zu verhindern.
Es ist immer
riskant, Vergleiche mit anderen Ländern und Zeiten
zu ziehen. Keine zwei Länder und keine zwei
Situationen sind genau gleich. Jeder Konflikt hat
seine besonderen historischen Wurzeln. Selbst wenn
die Symptome gleich sind, kann es eine vollkommen
andere Krankheit sein.
Diese
Vorbehalte gelten besonders bei dem Vergleich
zwischen dem israelisch-palästinensischen Konflikt
und dem historischen Konflikt zwischen den Weißen
und den Schwarzen in Südafrika. Es genügt, auf ein
paar grundlegende Unterschiede hinzuweisen:
(a)
In Südafrika war es ein Konflikt zwischen
Schwarzen und Weißen, die beide darin
übereinstimmten, dass der Staat selbst intakt
bleiben solle. Es gab nur die Frage, wer ihn
regieren solle. Fast keiner schlug eine Teilung des
Landes zwischen Schwarzen und Weißen vor.
Unser Konflikt ist einer zwischen zwei
verschiedenen Nationen mit verschiedenen
nationalen Identitäten. Für beide ist es von
höchstem Wert, einen eigenen Staat zu
haben.
(b)
In Südafrika war die Idee der „Trennung“ ein
Instrument der weißen Minderheit, um die schwarze
Mehrheit zu unterdrücken. Die schwarze Bevölkerung
wies dies einmütig zurück. Hier aber will die große
Mehrheit der Palästinenser von Israel getrennt
werden, um einen eigenen Staat zu gründen. Die große
Mehrheit der Israelis will auch von den
Palästinensern getrennt werden. Trennung ist also
das Bestreben der Mehrheit auf beiden Seiten. Die
Frage ist nur: wo soll die Grenze zwischen beiden
verlaufen? Nur die Siedler und ihre Verbündeten
verlangen, dass das ganze historische Gebiet
vereinigt bleibt, und sind gegen die Trennung, um
den Palästinensern weiter Land rauben und ihre
Siedlungen vergrößern zu können. Auf der
palästinensischen Seite sind es die islamischen
Fundamentalisten, die glauben, das ganze Land sei
ein WAQF (ein religiöses Treuhandgut), und gehöre
Allah und dürfe deshalb nicht geteilt werden.
(c)
In Südafrika herrschte eine weiße Minderheit
(etwa 10%) über eine große Mehrheit von Schwarzen
(78 %), Menschen gemischter Herkunft (7 %) und
Asiaten (3 %).
Hier zwischen dem Mittelmeer und dem Jordan leben 5,5
Millionen jüdische Israelis und etwa die gleiche
Zahl palästinensischer Araber (einschließlich der
1,4 Millionen Palästinenser, die Bürger Israels
sind).
(d)
Die südafrikanische Wirtschaft gründete sich
auf die Arbeit der Schwarzen und hätte
gar nicht ohne sie existieren können. Hier ist es
der israelischen Regierung gelungen,
alle Palästinenser vollständig aus dem israelischen
Arbeitsmarkt zu verdrängen und
sie durch Fremdarbeiter zu ersetzen.
ES IST bedeutsam, auf diese grundlegenden Unterschiede
hinzuweisen, um ernste Fehler beim Kampf gegen die
Besatzung zu vermeiden.
In Israel und im Ausland gibt es Leute, die diese
Analogie nennen, ohne entsprechende Aufmerksamkeit
auf die wesentlichen Unterschiede zwischen den
beiden Konflikten zu lenken. Ihre Schlussfolgerung:
die Methoden, die gegen Südafrika erfolgreich waren,
könnten auch im Kampf gegen die Besatzung
erfolgreich sein – die Mobilisierung der
öffentlichen Weltmeinung, einen internationalen
Boykott und Isolierung.
Das erinnert an einen klassischen Irrtum, der gerne in
Logikkursen gelehrt wird: ein Innuit (Eskimo) kennt
Eis, das durchsichtig ist. Eis kann gekaut werden.
Als er zum ersten Mal ein Glas Wasser bekommt, das
auch durchsichtig ist, denkt er, er könne es kauen.
Zweifellos ist es wesentlich, die internationale
öffentliche Meinung dazu zu bringen, etwas gegen die
kriminelle Behandlung des palästinensischen Volkes
durch die Besatzung zu tun. Wir tun es täglich – und
so jetzt auch Jimmy Carter. Jedoch muss klar sein,
dass dies unendlich viel schwieriger ist als der
Feldzug, der das südafrikanische Regime überwand.
Einer der Gründe: während des 2. Weltkrieges
versuchten die späteren Herrscher Südafrikas die
Anstrengungen gegen die Nazis zu sabotieren, und
waren deshalb damals im Gefängnis. Sie waren
weltweit verhasst und geächtet. Israel wird von der
Welt als der „Staat der Holocaustüberlebenden“
angesehen und deshalb mit überwältigender Sympathie
betrachtet.
Es ist ein schwerer Irrtum zu denken, dass die
internationale öffentliche Meinung der Besatzung ein
Ende setzen kann. Dies wird nur eintreten, wenn die
israelische Öffentlichkeit selbst davon überzeugt
ist.
Dann gibt es noch einen anderen bedeutsamen Unterschied
zwischen den beiden Konflikten, und dieser ist
vielleicht der bedenklichere: in Südafrika würde
kein Weißer von einer ethnischen Säuberung geträumt
haben. Selbst die Rassisten verstanden, dass das
Land nicht ohne die schwarze Bevölkerung existieren
kann. Aber in Israel wird dieses Ziel ernsthaft
erwogen – offen und geheim. Einer der
Hauptbefürworter, Avigdor Lieberman, ist ein
Mitglied der Regierung und letzte Woche instruierte
Präsident Bush Condoleezza Rice, ihn auch offiziell
zu treffen. Die Gefahr der Apartheid ist nicht das
Schlimmste, das über den Köpfen der Palästinenser
wie ein Damoklesschwert hängt. Sie sind von viel
Schlimmerem bedroht: dem Transfer, was totale
Vertreibung bedeutet.
EINIGE LEUTE in Israel und in der Welt bringt die
Apartheid-Analogie zu der logischen
Schlussfolgerung: die Lösung hier wird dieselbe sein
wie in Südafrika. Dort haben die Weißen nachgegeben,
und die schwarze Mehrheit kam zur Macht. Das Land
blieb vereinigt. Dank seiner weisen Führer, wie
Nelson Mandela und Frederick Willem de Klerk,
geschah dies ohne Blutvergießen.
In Israel ist das ein schöner Traum für das Ende der
Zeiten. Weil die darin verwickelten Menschen mit
ihren Ängsten dies zwangsläufig zu einem Alptraum
werden lassen. In diesem Land gibt es zwei Völker
mit sehr starkem nationalem Bewusstsein. Nach 125
Jahren Konflikt gibt es nicht die geringste Chance,
dass sie zusammen in einem Staat leben, die gleiche
Regierung teilen, in der gleichen Armee dienen und
die gleichen Steuern zahlen würden. Wirtschaftlich,
technologisch und bildungsmäßig ist die Kluft
zwischen den beiden Bevölkerungen immens. In solch
einer Situation würde es tatsächlich zu
Machtverhältnissen wie denen in Südafrikas
Apartheidregime kommen.
In Israel lauert der demographische Dämon. Es besteht
unter Juden eine existenzielle Angst, dass das
demographische Gleichgewicht selbst innerhalb der
Grünen Linie sich ändere. Jeden Morgen werden
gewissermaßen die Babys gezählt – wie viele jüdische
Babys wurden während der Nacht geboren und wie viele
arabische. In einem gemeinsamen Staat würde die
Diskriminierung sich verhundertfachen. Der Hang zum
Enteignen und Vertreiben würde keine Grenzen kennen,
die zügellose jüdische Siedlungsaktivität würde
blühen, zusammen mit der Bemühung, die Araber mit
allen nur möglichen Mitteln zu benachteiligen. Kurz
gesagt: die Hölle.
MAN KANN hoffen, dass diese Situation sich in 50 Jahren
verändern wird. Ich zweifle nicht daran, dass es am
Ende eine Föderation zwischen den beiden Staaten
geben wird, vielleicht einschließlich Jordaniens.
Yasser Arafat hat mehrere Male mit mir darüber
gesprochen. Doch weder die Palästinenser noch die
Israelis können sich weitere 50 Jahre Blutvergießen,
Besatzung und schleichende ethnische Säuberung
leisten.
Das Ende der Besatzung wird im Rahmen eines
Friedensabkommens zwischen beiden Völkern kommen,
die in zwei freien benachbarten Ländern leben werden
- Israel und Palästina – mit der Grenze zwischen
ihnen, die etwa der Grünen Linie entspricht. Ich
hoffe, dass dies eine offene Grenze sein wird.
Dann werden Palästinenser problemlos in israelischen
Fahrzeugen und Israelis in palästinensischen
mitfahren können– Inshallah! („so Gott
will!“). Wenn diese Zeit gekommen ist, wird sich
keiner mehr an General Yair Naveh erinnern oder an
seinen Boss den General Dan Halutz. Amen.
(Aus dem Englischen:
Ellen Rohlfs und Christoph Glanz, vom Verfasser
autorisiert)