Abu-Mazens Bilanz
Uri Avnery
1. Oktober 2016
MAHMOUD ABBAS war bei
meinem ersten Treffen mit Yasser Arafat während der Belagerung von
Beirut im Ersten Libanonkrieg nicht anwesend. Man sollte sich daran
erinnern, dass dies das allererste Treffen war, das je zwischen
Arafat und einem Israeli stattgefunden hat.
Einige Monate später, im
Januar 1983, wurde ein Treffen zwischen Arafat und der
Delegation des “Israelischen Rats für
den israelisch-palästinensischen Frieden" arangiert, die aus dem
General a.D. Matti Peled, dem ehemaligen Generaldirektor des
Finanzministeriums, Yaakov
Arnon, und mir bestand.
Am Flughafen in Tunis
bat uns ein PLO-Funktionär, vor unserer Zusammenkunft mit Arafat
Abbas zu treffen. Abbas war für die Beziehungen mit den Israelis
zuständig. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich von ihm nur über die
zwei Senior-PLO-Mitglieder gehört, mit denen ich geheime Gespräche
geführt hatte, Said Hamami (der ermordet wurde) and Issam Sartawi
(der ermordet
wurde).
Mein erster Eindruck von
Abu Mazen (der Kriegsname von Abbas) war, dass er völlig anders war
als Arafat, in der Tat, das genaue Gegenteil von ihm. Arafat war ein
warmherziger, schillernder, extrovertierter, berührender,
umarmender Mensch. Abbas hingegen
ist kühl, introvertiert, sachlich.
(Mazen bedeutet im Übrigen “Bilanz” auf Hebräisch)
Arafat war der perfekte
Führer einer nationalen
Befreiungsbewegung
und achtete darauf, so
auszusehen. Er trug stets eine Uniform. Abbas glich dem Direktor
eines Gymnasiums und trug stets einen europäischen Anzug.
ALS ARAFAT die Fatah am
Ende der 1950-er Jahre in Kuwait gründete, war Abbas einer der
Ersten, die sich anschlossen. Er ist einer der “Gründer”.
Das war nicht leicht.
Fast alle arabischen Regierungen lehnten die neu gegründete Gruppe
ab, die behauptete, für das palästinensische Volk zu sprechen. Zu
der Zeit behauptete jede arabische Regierung, die Palästinenser zu
repräsentieren und versuchte, die palästinensische Sache für ihre
eigenen Zwecke zu instrumentalisieren. Arafat und sein Volk nahmen
ihnen diese Möglichkeit.
Aus diesem Grund wurden sie in fast
der gesamten arabischen Welt verfolgt.
Nach diesem ersten
Treffen mit Abbas, traf ich ihn bei all meinen Besuchen in Tunis.
Ich beriet mich zunächst mit Abbas, indem wir Pläne für eventuelle
Aktionen diskutierten, um den Frieden zwischen unseren beiden
Völkern zu fördern. Wenn wir mögliche Initiativen vereinbart hatten,
pflegte Abbas zu sagen: “Nun werden wir diese dem “Rais”
(Führer)
übermitteln.”
Wir gingen in Arafats
Büro und präsentierten die Vorschläge, die wir erarbeitet hatten.
Kaum hatten wir sie vorgetragen, pflegte Arafat ohne die geringste
Verzögerung “Ja” oder “Nein!” zu sagen. Ich war jedesmal beeindruckt
von seiner schnellen Auffassungsgabe und seiner Fähigkeit,
Entscheidungen zu treffen. (Einer seiner palästinensischen
Gegenspieler sagte mir einmal: "Er ist der Führer, weil er der
Einzige ist, der genügend Mut besitzt, Entscheidungen zu treffen.")
In der Gegenwart von
Arafat, war Abu-Mazens Platz klar: Arafat war der Führer, der
Entscheidungen traf, Abbas war ein Ratgeber und Assistent, wie all
die anderen “Abus” - Abu Jihad (der ermordet wurde) Abu-Iyad (der
ermordet wurde) und Abu-Alaa (der noch lebt).
Bei einem meiner Besuche
in Tunis wurde ich um einen persönlichen Gefallen gebeten: Abbas ein
Buch über den Kasztner-Prozess mitzubringen.
Abu-Mazen schrieb
gerade eine Dissertation für eine Universität in Moskau über die
Kooperation zwischen Nazis und Zionisten, ein Thema, das zu Zeiten
der Sowjetunion sehr populär war. (Israel Kasztner war ein
Zionisten-Funktionär, als die Nazis in Ungarn einfielen. Er
versuchte, Juden zu retten, indem er mit Adolf Eichmann
verhandelte.)
ARAFAT SANDTE Abbas
nicht nach Oslo, weil Abbas bereits zu bekannt war. Stattdessen
sandte er Abu-Alaa, den unbekannten Finanzexperten der PLO. Die
gesamte Operation wurde von Arafat initiiert, und ich vermute, Abbas
hatte seinen Teil dazu beigetragen. In Israel gab es eine
Auseinandersetzung zwischen Yitzhak Rabin, Shimon Peres (der diese
Woche verstarb) und Yossi Beilin darüber, wem der Ruhm gebührte.
Aber die Oslo-Initiative kam damals von der palästinensischen Seite.
Die Palästinenser initiierten sie, die Israelis reagierten (Das
erklärt übrigens die traurige Geschichte des Oslo-Abkommens).
Wie ich bereits in
meinem vorherigen Artikel betont habe, wollte das Nobelpreis-Komitee
den Friedenspreis Arafat und Rabin verleihen. Aber Peres Freunde in
aller Welt setzten Himmel und Hölle in Bewegung, so dass das Komitee
Peres mit auf die Liste setzte. Die Gerechtigkeit verlangte, dass
auch Abbas den Preis hätte erhalten müssen,
da er das Abkommen zusammen mit Peres
unterschrieben hatte, aber die Nobelstatuten erlauben nur drei
Preisträger. So wurde Abbas der Preis nicht verliehen. Das war eine
eklatante Ungerechtigkeit, aber Abbas schwieg.
Als Arafat nach
Palästina zurückkehrte, wurden alle Festivitäten nur für ihn
abgehalten. An diesem Abend, als ich mir meinen Weg durch die
aufgeregten Massen rund um Arafats vorübergehendes Hauptquartier im
Hotel Palästina bahnte, war Abbas nirgendwo zu sehen.
Danach blieb Abbas im
Schatten. Augenscheinlich bekam er andere Aufgaben und war nicht
länger für Kontakte mit Israelis zuständig. Ich sah Arafat oftmals
und diente zweimal als “menschliches Schutzschild” in seinem
Ramallah-Büro, als Ariel Sharon sein Leben bedrohte. Ich sah Abbas
nur zwei oder drei Male (ich erinnere mich an ein Bild: Einmal, als
Arafat darauf bestand, die Hände meiner Frau Rachel und meine zu
ergreifen und uns zum Eingang des Gebäudes zu führen, lief uns Abbas
über den Weg. Wir schüttelten die Hände, tauschten Höflichkeiten
aus, und das war es dann.)
Rachel und Abbas waren
gleichaltrig und hatten beide viel Zeit in Safed verbracht. Rachels
Vater hatte eine Klinik auf dem Berg Kanaan von Safed, und einst
mutmaßten wir, ob Abbas als Kind von ihm behandelt worden wäre.
ALS ARAFAT STARB (er
wurde ermordet, glaube ich), war Abbas sein natürlicher Nachfolger.
Als Gründungsmitglied war er für jeden akzeptabel. Farouk Kaddoumi,
von gleichem Rang, ist ein Anhänger des Baath-Regimes in Damaskus
und lehnte Oslo ab. Er kehrte nicht nach Palästina zurück.
Ich traf Abbas bei
Arafats Beerdigungszeremonie in der Mukataa. Er saß neben Ägyptens
Geheimdienstchef.
Nachdem wir die Hände geschüttelt hatten, sah ich aus dem
Augenwinkel, dass er dem Ägypter zu erklären versuchte, wer ich bin.
Seitdem fungierte Abbas
als Präsident der “Palästinensischen Autonomiebehörde”. Dies ist
einer der schwierigsten Jobs auf Erden.
Eine nationale Regierung
unter einer Besatzung ist gezwungen, auf einem sehr schmalen Grad zu
gehen. Sie kann jede Minute auf die eine Seite fallen (Kollaboration
mit dem Feind) oder auf die andere Seite (Unterdrückung durch die
Besatzungsbehörden).
Im Alter von 17 Jahren,
als ich ein Mitglied der Irgun war, hielt meine Kompanie einen
Scheinprozess für Philippe Petain ab, den Marschall, der von den
Nazis als Oberhaupt der Vichy-Regierung eingesetzt wurde, die unter
der Naziherrschaft im “unbesetzten” Südfrankreich fungierte.
Meine Aufgabe bestand
darin, Petain zu “verteidigen”. Ich sagte, er sei ein französischer
Patriot, der versuche, zu retten, was nach dem Zusammenbruch von
Frankreich zu retten war und um sicherzustellen, dass Frankreich in
der Stunde des Sieges noch da sein würde.
Aber, als der Sieg kam,
wurde Petain zum Tode verurteilt und nur durch die Weisheit seines
Feindes, Charles de Gaulle, dem Führer des Freien Frankreichs,
gerettet.
Es gibt keine
Möglichkeit die Freiheit unter einer Besetzung zu bewahren. Jeder,
der das versucht, findet sich in einer heiklen Lage, indem er
versucht, den Besatzer zufriedenzustellen und sein Volk vor Schaden
zu bewahren. Im Laufe der Jahre war das Vichy-Regime gezwungen, mit
den Deutschen zu kollaborieren, Schritt für Schritt, von der
Verfolgung des Untergrunds bis zur Vertreibung der Juden.
Darüberhinaus, wo es
eine Autorität gibt, sogar unter
Besetzung,
entstehen plötzlich Interessengruppen. Einige Menschen erwerben ein
Interesse am Status quo und unterstützen die Besatzung. Pierre Laval,
ein opportunistischer
französisischer Politiker,
gelangte an die Spitze in Vichy und ziemlich viele Franzosen
versammelten sich um ihn. Am Ende wurde er exekutiert.
NUN BEFINDET sich Abbas
in einer ähnlichen Situation. Eine unmögliche Situation. Er spielt
mit den Besetzer-Machthabern Poker, während sie alle vier Asse
besitzen und er nichts in seiner Hand hat als eine geringwertigere
Karte.
Er sieht seine Aufgabe
darin, die besetzte palästinensische Bevölkerung bis zum Tag der
Befreiung zu schützen, dem Tag, an dem Israel gezwungen ist, die
Besetzung in all ihren Fazetten aufzugeben: die Siedlungen, die
Landenteignung und die Unterdrückung.
Gezwungen, aufzugeben -
aber wie?
Abbas lehnt den
gewalttätigen Widerstand
(“Terrorismus”) ab.
Ich glaube, dass er Recht hat. Israel hat eine riesige Armee, die
Besatzung hat keine “moralischen Bremsen” (siehe: Elor Azaria). Die
“Märtyrertaten” mögen den Nationalstolz der palästinensischen
Bevölkerung stärken, aber sie verschlimmern die Besatzung und führen
nirgendwohin.
Abbas hat eine Strategie
der internationalen Aktion angenommen. Er investiert einen Großteil
seiner Ressourcen, um eine pro-palästinensische UN-Resolution zu
erhalten, eine Resolution, die die Besatzung und die Siedlungen
verurteilen und Palästina als vollwertiges UN-Mitglied anerkennen
wird. Zur Zeit befürchtet Binyamin Netanyahu, dass Präsident Obama
die beiden Monate ohne Verantwortung nutzt – zwischen dem Wahltag
und dem Ende seiner Amtszeit - um eine entsprechende Resolution
durchzubringen.
Na und? Wird das in
irgendeiner Weise den Kampf gegen die israelische Besatzung wieder
verstärken? Wird das auch nur um einen Dollar die US-Unterstützung
für Israel verringern? In der Vergangenheit haben die sukzessiven
israelischen Regierungen dutzende UN-Resolutionen ignoriert und
Israels internationale Position hat sich nur noch verbessert.
Die Palästinenser sind
keine dummen Menschen. Sie kennen all diese Fakten. Ein Sieg in der
UN wird ihre Herzen erfreuen, aber sie wissen, dass er ihnen in der
Praxis sehr wenig helfen wird.
Ich gebe den
Palästinensern keinen Rat. Ich habe immer geglaubt, dass ein
Mitglied des besetzenden Volkes kein Recht hat, dem besetzten Volk
einen Rat zu erteilen.
Aber ich gestatte mir
selbst, laut zu denken, und diese Gedanken bringen mich zu der
Überzeugung, dass die einzige effektive Methode für ein besetztes
Volk ziviler Ungehorsam ist, ein völlig gewaltloser Volkswiderstand
gegen die Besatzung, vollkommener Ungehorsam gegenüber dem fremden
Eroberer.
Diese Methode wurde
weiterentwickelt von dem indischen Widerstand gegen die britische
Besatzung. Ihr Anführer, Mahatma Gandhi, war eine außergewöhnliche
Persönlichkeit, eine moralische Person mit einem hohen Maß an
praktischem politischen Scharfsinn. In Indien waren einige
zehntausend Militärs und britisches Zivilpersonal mit über einer
Million Indern konfrontiert. Ziviler Ungehorsam setzte der Besetzung
ein Ende.
In unserem Land ist die
Machtbilanz extrem anders. Aber das Prinzip ist dasselbe: keine
Regierung kann auf lange Zeit funktionieren, wenn sie mit einer
Bevölkerung konfrontiert ist, die sich weigert, auf irgendeine Art
und Weise mit ihr zusammenzuarbeiten.
Bei solch einem Kampf
kommt
die Gewalt immer von der Besatzung.
Die Besetzung ist immer
gewalttätig. Deshalb werden in einem gewaltlosen Kampf zivilen
Ungehorsams viele Palästinenser getötet werden, das allgemeine
Leiden wird noch um vieles zunehmen. Aber ein derartiger Kampf wird
gewinnen. Er tat es immer, wenn er irgendwo praktiziert wurde.
Die Welt, die ihre tiefe
Sympathie zu dem palästinensischen Volk ausdrückt, gleichzeitig
jedoch mit dem Besatzungsregime kooperiert, wird gezwungen sein, zu
intervenieren.
Und, was das
Allerwichtigste ist, dass die
israelische Öffentlichkeit, die zur Zeit auf das, was sich wenige
dutzend Kilometer von ihren
Häusern entfernt ereignet, schaut, als ob es in Honolulu geschähe,
endlich
aufwachen wird. Die Besten unseres Volkes werden sich dem
politischen Kampf anschließen.
Das schwache
Friedenscamp wird wieder erstarken.
DAS BESATZUNGSREGIME ist
sich dieser Gefahr wohl bewusst. Es versucht, Abbas mit allen
Mitteln zu schwächen. Es beschuldigt ihn der “Aufhetzung” - gemeint
ist der Widerstand gegen die Besatzung - so als ob
Abbas
ein brutaler Feind wäre. All dies, obwohl Abbas Sicherheitskräfte
offen mit der Besatzungspolizei und Besatzungsarmee kooperieren.
In der Praxis stärkt die
Besetzung das Hamas-Regime im Gazastreifen, das Abbas hasst.
Die Beziehungen zwischen
der Hamas und der israelischen Regierung reichen weit zurück. In den
ersten Jahren der Besetzung, als jede Art politischer Aktivitäten in
den besetzten Gebieten strengstens verboten war, war es nur den
Islamisten erlaubt, aktiv zu sein. Erstens, weil es unmöglich war,
die Moscheen zu schließen, und zweitens, weil die Besatzungsbehörden
glaubten, die Feindschaft zwischen den religiösen Muslimen und der
säkularen PLO schwäche Arafat.
Diese Illusion
verschwand zu Beginn der ersten Intifada, als die Hamas
gegründet wurde und schnell zur militantesten
Widerstandsorganisation wurde. Aber selbst dann sahen die
Besatzungsautoritäten in der Hamas noch ein positives Element, weil
es den palästinensischen Kampf spaltete.
Man muss daran erinnern,
dass der separate Gazastreifen eine israelische Erfindung ist. Im
Oslo-Abkommen verpflichtete Israel sich, vier “sichere Passagen”
zwischen der Westbank und dem Gazastreifen zu öffnen. Unter dem
Einfluss der Armee verstieß Rabin direkt von Anfang an gegen diese
Verpflichtung. Das Ergebnis war, dass die Westbank vollkommen vom
Gazastreifen abgeschnitten war – und die gegenwärtige Situation ist
das direkte Ergebnis hiervon.
Überall wundern sich die
Menschen, weshalb Netanyahu täglich Abbas als “Aufhetzer” und
“Sponsor des Terrors” diskriminiert, wohingegen er die Hamas nicht
einmal erwähnt. Um dieses Mysterium zu lösen, muss man verstehen,
dass die israelische Rechte keinen Krieg fürchtet, aber
um so mehr
den internationalen Druck. Deshalb ist der “moderate” Abbas
bedeutend gefährlicher als Hamas, der “Terrorist”.
EINEN ZIVILEN WIDERSTAND
wird es in naher Zukunft nicht geben. Die palästinensische
Gesellschaft
ist noch nicht reif dafür. Außerdem ist Abbas nicht der geeignete
Anführer für solch einen Kampf. Er ist kein
palästinensischer Gandhi, kein zweiter Mandela.
Abu-Mazen ist der
Anführer eines Volkes, das versucht, unter unmöglichen Bedingungen
zu überleben, bis eine Wende der Situation eintritt.
Darum kam er auch diese Woche zur
Beerdigung von Shimon Peres.
Aus dem Englischen übersetzt von Inga Gelsdorf