Palestine
Update Nr. 78 – 15. Oktober 2017 –
Was war das gewichtige „Women Wage Peace“ wirklich ?
-
Meinung - Ranjan Solomon - Redakteur - Wie können
„Frauen Frieden wagen“, ohne über die Besetzung zu
reden, fragt Orly Noy, eine politische Aktivistin,
die in der Vergangenheit mit Verbindungen wie „Women’s
Coalition for Peace“ und „Mizrahi Democratic
Rainboy“ gearbeitet hat.
Palestine
Update hat vorige Woche einen Bericht unter dem
Thema „Frauen wagen Frieden“ verteilt. In der
Retrospektive: Die enormen Zahlen faszinierten auch
Palestine Update, um die Wanderung als wichtigen
Aspekt der politischen Mobilisierung zu
veröffentlichen. Wir lagen falsch: vielleicht war
der Bericht „Good News“, ohne analytisch richtig zu
sein. Heute hilft uns Orly Noy nachzufragen, wieso
die Massen diese Wanderung so kolossal ausschauen
ließen. Sie zeigt, dass bei dieser Wanderung – rally
- fundamentale Fragen umgangen wurden. Diese
Wanderung, setzt sie hinzu, hatte nichts bewirkt,
als der Besatzung ihre Referenz zu erweisen.
Noy
bemerkt scharf: „Es ist einfältig, um nicht zu
sagen, kindisch, ein Viertel Jahrhundert nach dem
Oslo-Abkommen von „Verhandlungen“ zu reden und ein
„Friedens-Abkommen“ zu fordern. Verhandlungen? Im
Gegenteil, Israel würde liebend gern in eine neue
endlose Runde von Gesprächen einsteigen, die
internationalen Druck hinausschiebt und Enteignungen
weiter durchzuführen erlaubt, wie alle anderen
bisherigen Verhandlungsrunden. Diese Frauen
versuchen in dieses Vakuum hineinzuspringen, füllen
es mit immer neuen emotionalen Wörtern und dem
verzweifelten Versuch, eine Ähnlichkeit von
Symmetrie zwischen Israelis und PalästinenserInnen
zu schaffen“. (...)
Wie
können Frauen Frieden wagen, ohne über die Besetzung
zu reden?
- Orly
Noy* - Eine von „Women Wage Peace“
organisierte Rally (Wanderung) mag gewichtig
erscheinen, hat jedoch 50 Jahre militärischer
Besetzung ignoriert – und immer wieder werden die
alten Hüte von „der Rolle der Frauen in
gewalttätigen Konflikten“ wiedergekäut.
Ich bin
frühzeitig und mit vielen Vorbehalten bei der in der
vergangenen Woche von den „Women Wage Peace“ im
Independence Park in Jerusalem organisierten Rally
angekommen. Es war der Höhepunkt der zwei Wochen
dauernden
„Wanderung für den Frieden“ bei der
tausende israelische und palästinensische Frauen
durch Israel und die Westbank gegangen sind, um eine
friedliche Lösung des Konflikts zu fordern. Ich bin
der Gruppe gefolgt, seit sie sich nach dem
Gaza-Krieg von 2014 formiert hatte. Einerseits ist
eine Massenbewegung von Frauen zur Unterstützung des
Friedens eine begrüßenswerte Veränderung.
Andererseits – Was haben sie wirklich gesagt? Und,
was wichtiger ist, was haben sie NICHT gesagt? Wie
kann es sein, dass das Wort „Besetzung“ absolut
fehlt in einer Gruppe, die den Konflikt beenden
möchte?
Ich bin
frühzeitig gekommen und habe mich entschieden, in
einem Café neben der Route für die Rally zu sitzen.
Nach einigen Minuten setzten sich zwei Frauen in
weißen Kleidern, die arabisch sprachen, in meine
nächste Nähe. Ich fragte sie, ob sie zu der Rally
gehörten; sie sagten ja. Nach einer kurzen
Konversation fragte ich eine der beiden, eine
palästinensische Israelin aus Jaffa, ob es sie nicht
störe, dass von „Women Wage Peace“ niemals der
Begriff „Besetzung“ berührt werde.
„Das war
die Entscheidung, die getroffen wurde“, antwortete
sie ausweichend. Als ich nochmals nachfragte, ob
oder nicht sie das störe, sagte sie: „Natürlich
stört es mich. Es stört mich als Frau, als
Palästinenserin, als Israelin, aber so haben sie
entschieden. Dass wir über die Zukunft sprechen
müssen – wir haben schon genug über die
Vergangenheit geredet.“
Aber die
Besetzung ist nicht Vergangenheit, hake ich nach.
Sie ist ganz genau die Gegenwart. „Sie haben recht,
aber was können wir tun? Zu Hause hocken bleiben?
Wir müssen irgendetwas tun, um die Realität zu
verändern.“
Unsere
Konversation wurde durch den Marsch abgeschnitten,
der plötzlich ganz nah herankam. Wir zahlten und
liefen hinaus. Der Anblick war überwältigend:
tausende Frauen – und Männer – ganz in Weiß,
marschierten und sangen Friedenslieder mitten in
Jerusalem. Das sieht man natürlich nicht alle Tage.
Es waren so viele Menschen, dass Vorübergehenden der
Mund offen blieb: die gewöhnlichen Lieder der
Rechten – sehr gut bekannt von anderen Protesten,
die in der Gegend viel kleiner waren, speziell in
Jerusalem – waren kaum zu hören. Als Frau aus
Jerusalem war es für mich seltsam und aufregend,
Teil von allem dem zu sein.
Gebärmutter im Dienst des Friedens! - Ganz
locker schlenderten geschätzte 30.000 Frauen –
weitaus die Mehrheit jüdische – in den Park hinein,
um auf den Beginn der Rally zu warten. Als die Menge
sich drängte, setzte sie sich in Bewegung mit der
dreisprachigen (Englisch, Hebräisch, Arabisch) Form
von Leonard Cohen’s klassischem „Hallelujah“,
angeführt von Yael Deckelbaum und dem Ensemble von „Prayers
of Mothers“. Sehr schnell hatte ich begriffen, dass
„Mothers“ – Mütter – hier das Schlüsselwort war.
Fast jede Frau, die während der Rally zu Wort kam –
außer den jungen Mädchen – sprach von Mutterschaft.
Adi Altschuler, eine Erziehungsbeauftragte,
verwendet das Mantra „Herz zu Herz, Mutterschoß zu
Mutterschoß“, was mir zu einem nervösen
Schweißausbruch mitten in der Kälte Jerusalems
verhalf. Wir leben in einem Land, in dem die
Gebärmütter der Frauen vom Regime als Inkubatoren
für zukünftige Soldaten anvisiert werden (Altschuler,
die erst kürzlich ihr erstes Kind geboren hatte,
sprach davon, Mutter eines künftigen Soldaten zu
sein), während andererseits unsere Mutterliebe
benutzt wird um uns in die Rolle von Müttern zu
zwängen, die für den Frieden eintreten. Das ist das
Gegenteil von Frauen, die einfach z.B. Gerechtigkeit
fordern. Frau zu sein und Mutterschaft
gleichzusetzen macht wütend, um es mild
auszudrücken.
Ein
anderes Wort auf den Tafeln war KULAN – alle
Frauen. Die Bewegung, stellte sich heraus, schließt
alle Arten von Frauen ein: jüdische und
palästinensische, religiöse und sekulare, Mizrahi
und Ashkenazi, Städterinnen und diejenigen, die weit
weg von wirtschaftlichen Zentren leben, Lesben,
Bisexuelle .., Rechtsgerichtete, Linksgerichtete,
Zentralistinnen, neue Immigrantinnen und
israelisches Urgestein. Alle Typen von Frauen, eine
Siedlerin eingeschlossen, die, wie sie sagt, in
einem „wunderschönen und blutenden Samaria“ lebt.
Ja, sogar sie wünscht sich Frieden. Aber wie sieht
sie uns den Frieden erreichen? „Wenn zehntausende
Frauen in der Lage sind, über die schwierigen Themen
zu reden, kann unsere Führung nicht in der Lage sein
uns zu ignorieren.“ Aber was sind denn die
schwierigen Themen, über die wir reden müssen?
Vielleicht die herausfordernde und wachsende
Gegenwart der Siedlungen, wie diejenige, in der sie
lebt, und die die Chance verhindern, einen
palästinensischen Staat zu errichten. Nein. Also
vielleicht die Besetzung und die Checkpoints, durch
sie jeden Tag auf ihrem Heimweg gehen muss?
Menschenrechts-verletzungen? Kriegsverbrechen? Nein.
Eine Siedlerin von der Westbank kann so leicht auf
dem Podium stehen und über die Notwendigkeit „über
schwierige Fragen zu reden“ sprechen, weil sie weiß,
man würde tatsächlich nicht darüber sprechen.
Anderenfalls wäre sie vielleicht nicht in der Lage,
an einer Bewegung teilzunehmen wie dieser.
Dieses
verflixte Wort - In der Tat, die Forderungen der
Bewegung sind so unklar, dass sogar Netanyahu
mitmachen könnte, wenn er sich dies wünschte. Ihre
Forderungen können so zusammengefasst werden:
Friedensverhandlungen, die Frauen einschließen. Das
ist es! Aber was werden diese Frauen sagen, wenn sie
am Verhandlungstisch sitzen? Was sind ihre
Forderungen? Ihre roten Linien?
Das ist
ein Geheimnis. Sogar die Sprecherin der
Palästinenserinnen – die einzige, die aus den
besetzten Gebieten, aus Hebron – einer Stadt, die
unter Apartheid lebt – kommt, hat nicht einmal das
Wort Besetzung gebraucht. Sie hat nicht einmal
Arabisch gesprochen – Gott sei Dank! – sondern eher
Englisch. Kein Wort über die Checkpoints und die
Härten, die sie zu ertragen hat, nur um eine
Einreiseerlaubnis nach Israel von der israelischen
Armee zu erlangen. Besetzung? Vergiss es! Wir reden
über den Konflikt – ein viel hübscheres, viel
symmetrischeres Wort als Besetzung. Fast ironisch:
Das einzige Mal, dass das Wort „Besetzung“ während
der Versammlung gebraucht wurde, kam von dem
einzigen Mann, der zum Wort kam, dem früheren
Mitglied der Knesset, Shakib Shnaan; sein Sohn Kamil
war während des blutigen Angriffs auf dem Tempelberg
vor drei Monaten getötet worden. Vielleicht erlaubt
ihm das Faktum, dass er ein Mann ist, so zu
sprechen. Wir Frauen müssen von der Gebärmutter
sprechen, weiß tragen und auf Frieden hoffen. Wie
erreichen wir den Frieden? Fragt die Männer.
Ich
schreibe diese Worte mit sehr viel Traurigkeit. In
der politischen Wirklichkeit der letzten paar
Jahrzehnte ist nichts bedeutungslos an der Tatsache,
dass zehntausende Frauen fordern, dass sich diese
Wirklichkeit ändert, und dass sie willens sind, auf
die Straßen jeder kleinen und großen Stadt zu gehen,
um ihre Bewegung aufzubauen. Dass es eine
Fraueninitiative ist, gibt ihr sogar ein größeres
Potential. Und ja, es gibt so etwas wie eine von
Frauen geführte Politik, und sie kann revolutionär
sein und machtvoll – eine Politik, die zuerst und
vor allem die existierenden Hierarchien und sozialen
Strukturen herausfordert.
Die von
Frauen geführte Politik, die ich in Jerusalem
gesehen habe, war jedoch das komplette Gegenteil.
Sie war von der Art, die die vorhandenen
Machtstrukturen nur stärkt. Es war die Politik, in
der Frausein heißt weiß zu tragen, zu singen und zu
tanzen. Es heißt Mutter sein und eine Gebärmutter zu
besitzen, zu Hause sitzen und auf unsere
Soldatensöhne aufzupassen. Es heißt, Männer
freundlich zu bitten, doch Frieden zu machen. Statt
einer Revolution der Frauen haben wir Frauen, die
Veränderung fordern aber bei ihrem Leben nicht
entscheiden können, welche Art von Veränderung sie
sehen wollen. Frauen, die nur die Meinung
verfestigen, dass Politik ein schmutziges Wort ist,
mit dem Frauen nichts am Hut haben sollten – dass
sie Männern allein vorbehalten sei.
Keine
Symmetrie - Da ist etwas vereinfachendes, sogar
kindisches, über „Verhandlungen“ zu reden und ein
„Friedensabkommen“ zu verlangen – ein Viertel
Jahrhundert nach dem Versagen des Oslo Abkommens.
Verhandlungen? Im Gegenteil: Israel würde liebend
gern in eine neue endlos lange Gesprächsrunde
eintreten, die den internationalen Druck
hinausschiebt und ihm neue Enteignungen zugesteht,
so wie es bei allen vorhergehenden
Verhandlungsrunden der Fall gewesen war. Diese
Frauen versuchen in dieses Vakuum zu springen,
füllen es mit massenhaft emotionalen Wörtern und dem
verzweifelten Versuch, eine Ähnlichkeit zu Symmetrie
zwischen Israelinnen und Palästinenserinnen zu
schaffen.
Während
tausende Frauen am Sonntag in Jerusalem Lieder von
Frieden und Schwesterlichkeit sangen, wurde von Gaza
eine Rakete nach Israel abgeschossen, worauf Israel
mit einem Angriff auf den Streifen antwortete.
Können wir überhaupt anfangen mit dieser Realität
umzugehen ohne über Belagerung zu sprechen? Ohne das
Wort „Besetzung“ zu benutzen?
Ja, von
Besetzung zu sprechen ist nicht populär, und es
könnte die Anzahl der Teilnehmerinnen beim nächsten
Marsch sogar drastisch reduzieren. Aber vielleicht
sollten wir auf die Wörter der Siedlerfrau genau
hinhorchen: Bis wir in der Lage sind, über die
schwierigen Sachen zu reden, ist es zweifelhaft, ob
wir irgendetwas in der realen Welt ändern können.
Sogar, wenn wir alle weiß tragen und über unsere
Gebärmutter reden – in Hebräisch, Arabisch und
Englisch.
*)
Orly Noy ist politische Aktivistin, die in der
Vergangenheit in Netzwerken wie der
Frauen-Friedenskoalition (Women’s Coalition for
Peace) und Mizrahi Democratic Rainbow (Mizrahi
demokratischer Regenbogen) gearbeitet hat.
Quelle (Übers.:
Gerhilde Merz)
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