Brief an den
Bürgermeister von Frankfurt, von einem
Flüchtling aus dieser Stadt
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27.04.2017 -
Lillian
Rosengarten -
Lillian
Rosengarten, Autorin der Biografie Survival
and Conscience, ist in Frankfurt geboren und
entkam dem Holocaust. Nachdem der Bürgermeister
von Frankfurt eine Konferenz zu 50 Jahren
israelische Besatzung Anfang Juni verboten hat,
schrieb sie ihm folgenden Brief (Ü.):
Sehr geehrter Herr
Bürgermeister Uwe Becker. Als eine deutsche
Jüdin schäme ich mich. Zionismus hat immer jede
Kritik Antisemitismus, Delegitimierung und
Schlimmerem gleichgesetzt. Das dient als
Propaganda, um die falsche Vorstellung von Juden
als "Opfer" zu erhalten. Ultra-Nationalisten,
die an ihre moralische Überlegenheit glauben,
machen politischen Terror, um (andere) zum
Schweigen zu bringen und um zu verleugnen.
Wer hätte sich
1945 nach der Niederlage von Nazideutschland
vorstellen können, dass es in wenigen kurzen
Jahren eine bizarre Eskalation, eine toxische
Verbreitung von Antisemitismus geben würde, die
zum Teil von einem Land mit zwei Gesichtern
angefacht worden ist. Das eine Gesicht
behauptet, "die einzige Demokratie im Nahen
Osten" zu sein, während das andere Gesicht sich
in der Agenda einer genozidalen Besatzung
engagiert, die sich schon über drei Generationen
palästinensischer Kinder erstreckt, die in
Gefangenschaft geboren sind. Das ist das Gesicht
des Zionismus mit seinem Traum von einem
jüdischen Staat nur für Juden, "Palästinensern
verboten". Aber es gibt ein alter ego, bei dem
die Wahrheit alle Arten der Leugnung
durchbricht. Eine schmerzvolle Wahrheit, die
viele noch nicht als eine umsetzbare Realität
akzeptieren können. Es ist die Agenda des
israelischen Zionismus, die einer ganzen
Bevölkerung Palästinas, die unerwünscht und
verhasst ist und als "minderwertig" betrachtet
wird, die Schrecken der Entrechtung und des
Genozids zufügt.
Dieser deutschen
Jüdin (die ich bin) ist es nicht möglich, einen
Vergleich zwischen der fehlenden Bereitschaft
der israelischen Zionisten, das Menschsein der
Palästinenser als menschlicher Wesen wie sie
selbst anzunehmen, und Aspekten des Strebens der
Nazis nach einem rassisch reinen Deutschland zu
vermeiden.
Wer hätte sich
nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs
vorgestellt, dass noch einmal eine emotionale
Manipulation, die einem Terrorismus im eigenen
Haus gleichkommt, erfolgreich eine neue Kultur
der Angst und Hysterie schafft, die strategisch
auf Juden abzielt? Was da erschlossen wird, ist
tief eingegrabene Hysterie, die schlafend im
jüdischen Bewußtsein lebt. Das ist der Ort, an
dem die Ängste vor Vernichtung und
Viktimisierung warten, um wieder entfacht zu
werden. Ziel der Zionisten ist es Juden aus
aller Welt um sich zu scharen, damit sie den
"Jüdischen Staat" unterstützen und in ihm leben,
und benützen dafür die machtvolle Botschaft der
Indoktrination. Wir haben gehört: ein jüdischer
Staat ist der einzige Ort auf der Welt, wo Juden
sicher sein können und nicht mehr Opfer sind.
Ein solcher Jude
kann ich nicht sein. Als Flüchtling (aus
Nazideutschland) identifiziere ich mich mit den
heimatlosen, vertriebenen Palästinensern,
Flüchtlingen, die gezwungen wurden aus ihrem
Land und ihren Häusern zu fliehen, um unter
Besatzung, zerstört und von Gefängnissen,
Mauern, Checkpoints, bewaffneten Soldaten und
illegalen Siedlungen umgeben zu sein. Da der
Zionismus von 1948 auf der rassistischen
Ideologie der Überlegenheit als dem
"auserwählten Volk" gegründet wurde, muss ich
ein paar auf der Hand liegende Fragen stellen:
Haben Juden, die
selbst Opfer geworden sind, das moralische Recht
ein anderes Volk zu besetzen und zu entrechten?
Wieso haben sie nichts gelernt? Und noch
aktueller: wie konnte es geschehen, dass
Antisemitismus zur Verteidigung der
zionistischen Agenda verwendet wird? Da gibt es
tiefe psychologische Implikationen, die
untersucht und studiert werden müssen, über die
geschrieben und offen diskutiert werden muss, um
Licht in einen unerträglichen moralischen
Abgrund zu bringen.
Ich glaube, dass
es falsch ist darüber zu diskutieren, ob es
einen Antisemitismus gibt oder nicht, weil wir
sonst in eine Falle tappen und unsere
Orientierung verlieren. Die Zunahme von
Antisemitismus ist real. Wir können nicht
vorgeben, dass es keinen wirklichen
Antisemitismus gibt. Er verbreitet sich zusammen
mit der Islamophobie. Vielleicht ist der
Zionismus selbst antisemitisch, weil er Semiten
diskriminiert, und sogar Juden. Zionismus ist
keine Religion, sondern eine politische
Bewegung. Für Gerechtigkeit und ein Ende der
Besatzung zu arbeiten, ist nicht antisemitisch.
Ich bitte Sie,
Herr Bürgermeister Becker, ihre Loyalität
gegenüber dem zionistischen Israel ohne ein
Verständnis für den Kampf des palästinensischen
Volkes für ein Leben in Freiheit und Würde zu
überdenken. Israel kann nur frei sein, wenn auch
die Palästinenser frei sind. Ich werde Mitte
August in Frankfurt sein und würde Sie gerne
treffen. Dialog und einander Zuhören ist wichtig
in einer freien Gesellschaft. Ich wird mich
freuen von Ihnen zu hören. Lillian Rosengarten
(geb. Gisela Lebrecht) |